Zwischen Welten:Wie kritisch ist Regimekritik?

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Emiliia Dieniezhna (Foto: Bernd Schifferdecker)

Emiliia Dieniezhna hat eine Lesung des belarussischen Autors Sasha Filipenko besucht. Das lässt sie über ihre Haltung zu Regimekritikern nachdenken.

Kolumne Von Emiliia Dieniezhna

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine trifft es viele meiner Landsleute, wenn die Ukraine mit Russland oder Belarus verglichen oder gar gleichgesetzt wird. Das war auch der Fall, als der Friedensnobelpreis 2022 an den Rechtsanwalt Ales Bjaljazki (Belarus), die Menschenrechtsorganisationen Memorial (Russland) und Zentrum für bürgerliche Freiheiten (Ukraine) verliehen wurde. Ausgezeichnet wurden alle für ihren jahrelangen Kampf gegen die Verletzung bürgerlicher Rechte. Dennoch: Viele Ukrainer unterscheiden hier nicht mehr. Für sie ist klar, wer Aggressor und wer Opfer ist. Zu Ersterem zählen sie auch Belarus, weil von hier aus mutmaßlich Angriffe gegen die Ukraine gesteuert werden.

Das ist auch der Grund dafür, warum wir Ukrainer so vorsichtig mit Regimekritikern aus Russland und Belarus sind. Häufig ist ihre Position für uns zweifelhaft. Alexej Nawalny etwa unterstützt den Krieg gegen die Ukraine zwar nicht, aber er hat auch gesagt, dass die Krim de facto ein Teil Russlands sei. Derlei Aussagen stärken nicht gerade unser Vertrauen in Regimekritiker.

Trotzdem habe ich mich entschieden, eine Lesung des belarussischen Autors Sasha Filipenko in der Pullacher Bibliothek zu besuchen. Er ist ein bekannter Kritiker des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko und auch von Putin. Filipenko lebt in der Schweiz im Exil. Ich war gespannt auf seine Gedanken.

Der Journalist und Autor Sasha Filipenko (rechts) nahm im März 2022 mit Navid Kermani, Sasha Marianna Salzmann und Deniz Yücel (von links) an der Eröffnungsveranstaltung der Lit.Cologne teil, die mit einer Solidaritätsveranstaltung für die Ukraine begonnen hatte. (Foto: Oliver Berg/dpa)

Filipenko hat sein neues Buch "Kremulator" präsentiert, das auch auf Deutsch erschienen ist. Der historische Roman erzählt die Geschichte von Pjotr Nesterenko, dem Direktor des ersten Moskauer Krematoriums. Während des stalinistischen Terrors hat Nesterenko die Leichen der zum Tode Verurteilten verbrannt. Später wurde er selbst festgenommen wegen angeblicher Spionage. Der Roman basiert auf den Prozessakten Filipenkos, also sehr nah an den damaligen Geschehnissen. In seinem Buch beschreibt Filipenko das Leben in einer Diktatur und die Sinnlosigkeit des Krieges.

Was mich wirklich bis ins Mark getroffen hat, war nicht die Lesung selbst, sondern das Gespräch mit dem Autor. Ich habe viele Gemeinsamkeiten bemerkt. Als Journalistin im Exil habe ich auch das Gefühl, dass mir mein Land und meine Stadt fehlen, obwohl ich, genau wie Filipenko, "gut angekommen bin", wie meine deutschen Freunde sagen. Ich mache mir aber auch Sorgen um meine Tochter, wenn es um ihre Zukunft geht.

Nicht einverstanden bin ich mit Filipenkos Haltung, dass Putins Kriegsverbrechen nur deshalb möglich sind, weil die russische Gesellschaft die einstigen Verbrechen des sowjetischen Regimes nicht erkannt und nicht verarbeitet hat. Dabei sind genügend Bücher über die Repressalien während der Sowjetzeit erschienen. Es ist für die Russen aber bequemer zu ignorieren, was ihnen nicht gefällt.

Im Gegensatz zur unperfekten Demokratie in der Ukraine setzt das russische Regime auf Propaganda, die die Menschen dazu verleitet, keine Kritik zu äußern. Das ist meiner Meinung nach auf jeden Fall eine Folge der Angst, in der die sowjetische Gesellschaft lebte.

Was diesen Teufelskreis durchbrechen könnte, ist das Anerkennen der Schuld von Kriegsverbrechen. Ob die russische Gesellschaft das schafft, da bin ich nicht sicher. Filipenko allerdings ist fest davon überzeugt.

Emiliia Dieniezhna, 34, flüchtete mit ihrer damals vierjährigen Tochter Ewa aus Kiew nach Pullach bei München. Sie arbeitet ehrenamtlich für die Nicht-Regierungs-Organisation NAKO, deren Ziel es ist, Korruption in der Ukraine zu bekämpfen. Außerdem unterrichtet sie ukrainische Flüchtlingskinder in Deutsch. Für die SZ schreibt sie einmal wöchentlich eine Kolumne über ihren Blick von München aus auf die Ereignisse in ihrer Heimat.

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