Früher wollte sie mal Lateinlehrerin werden, jetzt liest sie ganz anderen Kalibern die Leviten: Elisabeth Ehrl ist seit 1. Mai Vorsitzende der ersten Strafkammer am Landgericht München I. Das heißt, sie wird Mörder vernehmen, jedes kleinste grausame Detail bewerten und über Kapitalverbrecher urteilen. Ehrl ist die erste Frau in der Geschichte des Landgerichts in München, die ein derartiges Amt bekleidet. Warum erst jetzt? "Ich denke, das war Zufall", sagt sie und lächelt. Sie verfüge über die nötige Qualifikation - und die Liebe zum Strafrecht, "weil das ist einfach näher am Menschen dran".
Justitia, die Göttin der Gerechtigkeit, ist eindeutig dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen - was man allerdings lange Jahre bei der Stellenbesetzung in der Justiz vermisst hat. Die Herren in Roben waren in der eindeutigen Mehrzahl und auch in der Staatsanwaltschaft hatten sie die Hosen an. 2008 etwa zählte das Justizministerium 2131 Richter, darunter lediglich 753 Frauen. Heute ist das Verhältnis mit 1174 Richterinnen und 1238 männlichen Kollegen nahezu ausgeglichen. Bei der Staatsanwaltschaft haben die Damen das männliche Geschlecht sogar überholt: Mit 422 Frauen von insgesamt 809 Staatsanwälten stellen sie mit 52,26 Prozent die Mehrheit.
Mittlerweile erobern die Frauen auch peu à peu die Führungsebenen. Im März dieses Jahres wurde Andrea Schmidt als Präsidentin am Landgericht München I eingeführt, Beate Ehrt steht dem Amtsgericht in München vor und Ursula Schmid-Stein ist Vize-Präsidentin am Oberlandesgericht. "Ich wäre durchaus gekränkt und würde es als Missachtung meiner bisherigen Leistungen ansehen, wenn man mich hier als Quotenfrau bezeichnen würde", sagt Elisabeth Ehrl. Aus solchen Erwägungen heraus würde man eine so herausgehobene Stelle nicht besetzen. Entscheidend für dieses Amt seien strafrichterliche Erfahrung und ausreichend Erfahrung in Kapitalstrafsachen.
Nachdem Ehrl ihr Examen mit der für die Einstellung in den Staatsdienst erforderlichen guten Note abgelegt hatte, entschied sie sich für eine Laufbahn in der Justiz. In ihrer Anfangszeit von 1991 an, so erzählt sie, seien etwa Teilzeitkräfte nicht so gerne gesehen gewesen. Es habe nur Vollzeit- oder halbe Stellen gegeben. "Die Halbtagskräfte waren damals auch nur in der Verkehrsabteilung der Staatsanwaltschaft oder im Zivilrecht zu finden." Ehrl war die erste Staatsanwältin in München I, die sich eine 0,75-Stelle in einer Spezialabteilung erkämpft hatte. Sie scheute keinen Wechsel und keine neue Erfahrung. Sie war Richterin im Zivil- wie im Strafrecht, war fünf Jahre lang als Kapitalstaatsanwältin an jedem Tatort, "das war eine sehr interessante Zeit", und saß vier Jahre als Beisitzerin bei der zweiten Strafkammer, die ebenfalls Kapitaldelikte verhandelt.
"Frauen müssen auch bereit sein, verschiedene Positionen bei der Justiz zu durchlaufen, um höhere Ämter anstreben zu können", sagt Amtsgerichts-Präsidentin Beate Ehrt. Bis heute allerdings würden sich noch deutlich weniger Frauen als Männer bei Ausschreibungen um Beförderungsämter bewerben, erklärt Sabine Drost, Sprecherin am Justizministerium. Um mögliche Ursachen für diese Unterrepräsentanz zu ermittelt, plant das Ministerium aktuell eine Online-Abfrage bei allen Richterinnen und Staatsanwältinnen in Bayern. Bis dato, sagt Drost, werden Gleichstellungskonzepte erstellt und flexible Arbeitszeitmodelle angeboten, sodass Führungspositionen auch in Teilzeit möglich sind. Zudem wurden so genannte "Kids-Boxen" eingerichtet, mobile Eltern-Kind-Zimmer mit Kinderspielsachen, sodass im Notfall der Nachwuchs mit ins Gericht genommen werden kann.
Dass Frauen anders verhandeln als Männer, glaubt Ehrl nicht
Jeden Tag mit den grausigsten Verbrechen, die eine Stadt zu bieten hat, konfrontiert zu werden, "das können und wollen einige Kollegen nicht machen", sagt Elisabeth Ehrl. Aber sie, sie wollte "schon immer zum Kapital". Die 56-Jährige findet die Bandbreite ihrer Aufgabe spannend. Der Täter könne ein braver Familienvater, ein obdachloser Alkoholiker oder ein Rechtsanwalt sein. "Wir haben als Motive Augenblicksversagen bis hin zu geplanten Tathandlungen, Aggressionsdelikten unter Drogen oder Delikten von psychisch schwer kranken Menschen." Die damit verknüpfte Zusammenarbeit mit Psychiatern, Psychologen und Rechtsmedizinern sieht sie ebenso als reizvoll an.
Dass Prozesse am Schwurgericht äußert arbeitsintensiv sind, stört Elisabeth Ehrl weniger. Sie sei schon immer eine gründliche Arbeiterin gewesen, "ich lese alle Akten von vorne bis hinten selbst". Vergangene Woche startete ihr erster Prozess, ein versuchter Mord in einem Asylbewerberheim. Wenn sie in schwarzer Robe auf dem erhöhten Podest Platz nimmt, will sie sich ausreichend Zeit für Angeklagte und Zeugen nehmen. Ausreichend Geduld, sagt sie, bringe sie mit, das habe sie im Laufe der Jahre gelernt. Sie sei ein fröhlicher und offener Mensch, könne auch mal laut werden, "aber man darf die Emotionen nicht hochkochen lassen". Wobei "eine sehr leise Stimme auch mal eindrucksvoller sein kann als eine laute". Dass Frauen anders verhandeln als Männer, glaubt Elisabeth Ehrl nicht. Es komme auf die professionelle Distanz an.
Elisabeth Ehrl hat als Staatsanwältin und Beisitzerin bereits in menschliche Abgründe geblickt. Sei es bei der Soko Aidenbach, wo ein psychisch Kranker eine junge Frau erstochen hatte oder der sogenannte Algarven-Mord, bei dem 2010 ein Ingenieur seine Ex-Freundin und die gemeinsame, 21 Monate alte Tochter ermordet hatte. Staatsanwältin Ehrl hatte damals lebenslange Haft und die besondere Schwere der Schuld beantragt. Das Schwurgericht war ihr gefolgt. Jetzt obliegt es der Richterin Ehrl, bei Kapitaldelikten ein Urteil zu fällen.