Historisches Buch:Ungeheuer populäre Wehr

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Das Freikorps Werdenfels in München 1919 anlässlich der Niederschlagung der Räterepublik (Foto: Schloßmuseum Murnau, Bildarchiv)

Neun Autoren erforschen in dem Band "Revolution und Reaktion" die Anfänge der NS-Bewegung im bayerischen Oberland.

Von Sabine Reithmaier

An historischen Untersuchungen zur Weimarer Republik mangelt es beileibe nicht. Doch was sich während dieser Zeit im bayerischen Oberland abseits von München abgespielt hat, ist noch wenig oder nur für einzelne Orte erforscht. Erstmals haben sich für den Band "Revolution und Reaktion" nun neun Autoren, seit Jahren in diesem Umfeld forschend unterwegs, zusammengefunden, um einen wissenschaftlich fundierten Blick auf den Zeitraum von 1919 bis 1923 zu werfen und in einem durchweg spannend zu lesendem Buch den Anfängen der NS-Bewegung nachzuspüren.

Der Band setzt mit der November-Revolution von 1918 an, die Dietrich Grund schlaglichtartig beleuchtet. Der Aufstand selbst fand nur wenig Widerhall im südlichen Oberbayern. Anders als die Räterepublik im April 1919: Überall dort, wo es Arbeiter gab, ob in den Bergwerkstädten Penzberg und Peiting oder am gerade im Bau befindlichen Walchenseekraftwerk, gründeten sich Revolutions- oder Arbeiterräte.

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"Kommunistenherrschaft" allerorten, witterte Gustav von Kahr, Regierungspräsident von Oberbayern, jedenfalls wenn man seinem dankenswerterweise im Anhang erstmals komplett abgedruckten Bericht ans Innenministerium vom Juni 1919 Glauben schenkt. Nach Orten geordnet hielt er die oft blutigen Auseinandersetzungen fest, stellte die revolutionären Akteure als roh und unzivilisiert dar, nur daran interessiert, Anarchie und Bolschewismus in die Provinz zu tragen. Gestützt auf die Einwohnerwehren gelang es ihm schnell, die Arbeiter- und Soldatenräte aufzulösen.

Die Historikerin Edith Raim hält die Einwohnerwehr Bayerns übrigens für den "missing link" zwischen den mobilen Freikorps des Jahres 1919 und der 1921 gegründeten SA. Obwohl die tatsächliche Gefahr durch eine radikalisierte Industriearbeiterschaft auf dem Land gering war, war die Wehr ungeheuer populär. Mitmachen konnte jeder "regierungstreue, körperlich rüstige und gut beleumundete Einwohner", Mitglieder der KPD und der USPD waren ausgeschlossen. Jüdische Angehörige dagegen gab es, die Wehren, die sich 1921 auflösen mussten, verstanden sich als unpolitisch und überparteilich.

Die Einwohnerwehr Weilheim im Jahr 1921. (Foto: Stadtarchiv Weilheim)

Für ihre paramilitärischen Nachfolger galt das nicht mehr. Bayern sei nach dem gescheiterten Kapp-Lüttwitz-Putsch (März 1920) zur "Auffangstation für zahlreiche aufgelöste Freikorps und konterrevolutionäre Vereinigungen aus ganz Deutschland" geworden, konstatiert Susanne Meinl, die sich mit den Anfängen der braunen Netzwerke im Oberland auseinandersetzt. Sie wertete im Bundesarchiv Berlin die Liste von "Adolf Hitlers Mitkämpfer[n] 1919-1921" aus, für sie eine "wahre Fundgrube für die braune Lokalgeschichte".

Dank Meinls akribischer Recherche gelingt der Nachweis, dass es den Nationalsozialisten schnell gelang, auf dem Land Fuß zu fassen. Hitler trat der im Januar 1919 gegründeten "Deutschen Arbeiterpartei" (DAP), einer der vielen rechtsradikalen Splittergruppen, im September bei, die Umbenennung in NSDAP folgte im Februar 1920. Meinl entdeckte auf der frühen Mitgliederliste viele Namen von Geschäftsleuten und Handwerksmeistern, fast durchweg Menschen, die in ihren Orten angesehen waren. Trotzdem wollten die Ortsgruppen - die erste im Oberland gründete sich am Tegernsee - nicht wirklich Schwung aufnehmen.

Der Aufstieg der NSDAP im Oberland wird am Beispiel des Bezirksamtes Bad Tölz untersucht

Für militärisches Know-how sorgten die ehemaligen Freikorps-Offiziere aus dem Norden Deutschlands, allen voran die Kämpfer der "Marinebrigade Ehrhardt". In geheimen Arbeitskommandos wie der Weilheimer "Arbeitsgemeinschaft Schmidt" wurden sie zur Moorkultivierung eingesetzt. In Wirklichkeit aber - und damit erinnern sie schon sehr an die aktuellen Bestrebungen der Reichsbürger - bereiteten sie die gewaltsame Beseitigung der Weimarer Republik vor, wie Michael Hille schreibt, der den Aufstieg der NSDAP im Oberland am Beispiel des Bezirksamtes Bad Tölz untersucht. Hitler selbst tauchte im Oberland nur selten auf, überließ die mühsame Werbetour seinen Gefolgsleuten. Den Aktivitäten der Partei spürt Paul Hoser anhand der Artikel im Völkischen Beobachters nach.

Hochinteressant auch der Aufsatz von Michael E. Holzmann, der sich mit den Wechselwirkungen der völkischen Bewegung in Österreich und der bayerischen NSDAP befasst und den Mythos von der Opferrolle Österreichs entkräftet. Den Mitgliedern der NSDAP in Fürstenfeldbruck widmet sich Gerhard Neumeier, Elisabeth Tworek analysiert den Fremdenverkehr im Alpenvorland. Und Gabi Rudnicki schreibt über den hellsichtigen Schriftsteller Ödön von Horváth.

Nach dem gescheiterten Putsch vom 8./9. November 1923 in München stand die NSDAP kurz vor der Auflösung. Hitler saß im Gefängnis, die Partei selbst war verboten. Doch den Zulauf zu den rechtsradikalen Nachfolgeorganisationen stoppte das nicht.

Edith Raim/Susanne Meinl/Marion Hruschka/Ulrike Haerendel (Hg.): Revolution und Reaktion. Die Anfänge der NS-Bewegung im bayerischen Oberland von 1919 bis 1923, Allitera Verlag. Buchvorstellung am 26.1., 19 Uhr, Evangelische Akademie Tutzing

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