In ein neues Haus gehören schöne neue Sachen. Das gilt auch für ein Gotteshaus. Als die in jeder Hinsicht ungewöhnliche Poinger Pfarrkirche Seliger Pater Rupert Mayer - nicht umsonst für ihre Gestaltung mehrfach preisgekrönt - im Juni 2018 geweiht wurde, waren allerdings aus architektonischen Überlegungen im Inneren weder ein fest installiertes Kreuz noch ein Kreuzweg vorgesehen. Bis sich Ersteres änderte, dauerte es eine Weile, einen Andachtsweg für die österliche Bußzeit wollte die Gemeinde hingegen direkt haben.
Wer ihn gestalten sollte, stand schnell fest: Claudia Zörnweg und Sabine Christofori. Erstere, gebürtige Poingerin und dort auch während des Referendariats in Niederbayern verwurzelt, hatte mit ihrer Freundin und Kollegin bereits Krippenfiguren für die Weihnachtszeit gefertigt. Weil diese überall großen Anklang fanden, sollte dieselbe Machart auch für den Kreuzweg dienen: Naturmaterialien und keine Gesichter.
Die Idee dazu war den Förderschullehrerinnen völlig anlasslos bereits viel früher gekommen, während einer der meist dreiwöchigen Etappen ihres gemeinsamen Jakobswegs, der sie von Poing über den Bodensee, in die Schweiz und nach Frankreich führte - die letzten 300 Kilometer fehlen noch. "Schon damals hatten wir immer wieder Treibholz gesammelt, weil wir dachten, dass man daraus etwas machen könne", berichtet Claudia Zörnweg. Diesen Einfall griffen sie daher auf - erst für die Krippenfiguren, dann, kurz nach Weihnachten, ein zweites Mal für die Darstellung des Kreuzwegs.
Treibholz vom Lech und Isarkiesel
"Im Tun ist das, was erst als 'Übergangslösung' gedacht war, allerdings gewachsen und zu etwas viel Wertigerem geworden", erläutert Zörnweg. Die 42-Jährige verfügt auch über eine kirchliche Lehrerlaubnis und ist Erste Vorsitzende des Pfarrgemeinderats. Zunächst erstellten die beiden Kreativen also ein Konzept, dann gingen sie auf die Suche nach dem passenden Material. Zur Situation sollte es passen und aus der Region stammen. "Wir haben jemanden aufgetan, der Treibholz aus dem Lech in einer riesengroßen Scheune gesammelt hat", beschreibt Zörnweg den Entstehungsprozess. Dann sei sie mit der Freundin hingefahren und habe sich inspirieren lassen.
Die mitgenommene Menge überstieg den tatsächlichen Bedarf deutlich - dadurch war eine sorgfältige Auswahl möglich. Für jede einzelne Figur konnte man so die Anmutung individuell gestalten, in Oberfläche und Form die darzustellende Situation aufgreifen. Ein gekrümmtes Holz ergab einen gebeugten Rücken, Schmerz und Leiden des Gekreuzigten wurden sichtbar durch Material, das zunehmend brüchiger und verwittert wurde.
Die aus Kiesel gestalteten Köpfe fanden die Frauen am Isarufer rund um München. Auch hier machten sie sich viele Gedanken um die Auswahl, sorgten dafür, allein schon durch die Beschaffenheit auf den Charakter der Figuren hinzuweisen. Die Steine der Soldatenköpfe sind kantig und grob - das Haupt der Maria wiederum ist glatt und "weich".
Bekleidet sind die Figuren mit Stoffen aus handgefärbtem Naturleinen, wie es historisch zur Zeit Jesu verwendet wurde. Die Zweige der Dornenkrone stammen von einem Strauch, der neben dem Eingang der vormaligen Poinger Pfarrkirche St. Michael steht, um hier einen Bezugspunkt zu schaffen.
"Ich selbst bin künstlerisch nicht wirklich begabt, deswegen bin ich total fasziniert und finde es genial, wie man aus einer Wurzel eine Struktur herauslesen kann, die sie dann hinterher zu einer Figur werden lässt", kommentiert Pfarrer Philipp Werner die Werke, die ab Aschermittwoch wieder den Altarraum seiner Kirche schmücken werden. Er selbst trat seinen Dienst in der Gemeinde im September 2019 an, da gab es den Kreuzweg schon. Darum habe er erst einmal nachgezählt, als er ihn das erste Mal sah, sagt der Geistliche und lacht.
Traditionell sind es nämlich 14 Stationen, während man sich in Poing "aus verschiedenen Gründen" bewusst für eine Abweichung entschieden hat: Zehn für die Fastenzeit und eine elfte mit dem Auferstandenen für die Osterzeit - hier ist das Holz übrigens "geschliffen, glatt, hell und heil". All das ist der Broschüre zu entnehmen, die in der Kirche ausliegt und nur am Rande der Information dient.
Vielmehr handelt es sich um ein Andachtsheft, mit dessen Hilfe der Kreuzweg gemeinsam, aber auch allein gebetet werden kann. Enthalten sind für jede Station ein Bibelwort nebst einem Zitat des Kirchenpatrons. Entschieden hat man sich dafür, weil auch er "in seinem Leben so manches Kreuz zu tragen hatte" und somit gewusst habe, wovon er sprach, hört man von Claudia Zörnweg. Sie hat das Heft zusammen mit dem damals amtierenden Pfarrer Christoph Klingan, heute Generalvikar des Erzbistums München und Freising, sowie Pastoralreferent Michael Wendlinger erstellt.
Letzterer, mittlerweile als Klinikseelsorger in München tätig, hat die jeweils rund zweiminütigen Meditations-Clips zum Kreuzweg eingesprochen, die sich auf der Internetseite der Pfarrei finden. Als eines der ersten Video-Projekte während des ersten Lockdowns finden sich dort auch diverse Pandemie-Bezüge. "Das Medium war für uns damals noch ganz neu, heute würden wir es anders machen", erläutert Pfarrer Werner. Andererseits stellten die Clips ein Zeugnis der Zeit dar und er stehe voll und ganz dahinter, ergänzt er.
Der Kreuzweg an sich begeistert ihn durch seine Wandlungsfähigkeit. Die Tatsache, dass die Figuren keine festgelegten Gesichtszüge haben, lasse viel Spielraum für eigene Interpretation. Bei seinen Führungen mit Kindergartenkindern sei es immer unglaublich spannend, was diese sehen. "An einer der Stationen sagte ein Kind: 'Die lachen den Jesus aus.' Ich habe mich sofort gefragt: Woran hat der Bub das erkannt?" Offensichtlich sei also den Künstlerinnen gelungen, das zu transportieren, was gemeint ist.
Das tun sie auf durchaus unterschiedliche Weise. So scheint auf den ersten Blick auf dem Schweißtuch der Veronika ein Gesicht mit Augen, Nase, Mund und sogar Dornenkrone erkennbar zu sein. Schaut man genauer hin, stehen dort lauter negative Begriffe wie Erschöpfung, Angst, Hetze, Neid, einsam, kraftlos, weinen. "Sie stehen in Verbindung mit dem Sachverhalt, um den es geht, und können auch ein Spiegel für den Betrachter sein", führt Werner aus. Seine Lieblingsstation ist jene, direkt neben dem Tabernakel, mit der der Kreuzweg startet. "Den Kindern erkläre ich: Hier seht ihr einen König mit einem schönen Mantel, aber ohne Land und ohne Macht. Zwar hat er eine Krone, aber die tut weh."
Und so besitzen die Skulpturen, entstanden in der Hobbywerkstatt im Keller des Taufkirchener Hauses von Familie Christofori, in ihrer schlichten Anmutung eine unglaubliche Tiefe. Definitiv sind sie alles andere als eine "Übergangslösung". So sehen es die Gemeindeglieder, die immer wieder erklären, "sehr berührt" zu sein, wie Claudia Zörnweg weiß. Das gilt auch für die zahlreichen Besucher, die teilweise die Kirche nur deswegen aufsuchen, um den Kreuzweg zu bewundern.
Die Stationen gemeinsam oder allein "absolvieren", also dort mit kurzen Gebeten innehalten und über das Geschehen nachdenken, kann man natürlich auch. Pfarrer Werner sagt über diese jeweils etwa 35-minütige Andachtsform, es lasse sich so ein Bezug zu verschiedenen Anlässen im eigenen Leben herstellen und man habe Gelegenheit, an den einzelnen Stationen für Menschen zu beten, die ein ähnliches Schicksal erlebt haben.
In der Fastenzeit wird der Kreuzweg einmal wöchentlich abwechselnd in der Alten Pfarrkirche St. Michael und der Pfarrkirche Sel. P. Rupert Mayer gebetet. Die genauen Termine finden sich im Internet auf der Seite der Pfarrei unter "Aktuelles".