Beeindruckende Rekonstruktion:Woodstock im Landkreis

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Das Atelier in Moosach hat ein neues Gesicht bekommen: Andy Webster, Derek Tyman und Hubert Maier haben die Fassade der "Maverick Concert Hall" nachgebaut. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Dem "Maverick" auf der Spur: Die beiden englischen Künstler Andy Webster und Derek Tyman holen einen alternativen Konzertsaal nach Ebersberg - und mit seiner Historie auch den berühmten Komponisten John Cage.

Von Anja Blum, Ebersberg

Maverick heißt der fliegende Held in "Top Gun" - beim aktuellen Teil zwei hat es der Name sogar in den Filmtitel geschafft. Dabei wissen wahrscheinlich viele Kinobesucher gar nicht, wofür er steht, denn im Deutschen ist der Begriff nicht sonderlich geläufig. Im Englischen aber ist Maverick eine gängige Bezeichnung für einen Menschen, der es mit den Regeln nicht so genau nimmt. Der unabhängig denkt und handelt. Der gegen den Strom schwimmt. "Maverick" ist also ein Topos - dem nun, nach Hollywood, auch der Ebersberger Kunstverein ein großes Projekt widmet.

Entstanden ist der Begriff Mitte des 19. Jahrhunderts in Amerika, er geht zurück auf einen Samuel A. Maverick, einen texanischen Viehzüchter, der seine Rinder - entgegen der Gepflogenheiten - nicht mit einem Brandzeichen versah. Infolgedessen wurden Tiere, die nicht zur Herde gehörten, als "Mavericks" tituliert, und irgendwann ging das Wort schließlich auch als Bezeichnung für einen Menschen in den englischen Sprachgebrauch ein. Doch wie soll man ihn übersetzen? Non-Konformist, Rebell oder Außenseiter? Irgendwie scheint sogar das Wort selbst aufgrund seiner linguistischen Unschärfe ein Maverick zu sein.

Andy Webster und Derek Tyman lieben Unschärfen, die Platz lassen für Kreativität

Solche Lücken, in denen Luft ist für Interpretation und Kreativität, sind die Spezialität des englischen Künstlerduos Andy Webster und Derek Tyman. Außerdem kombinieren dessen Projekte häufig groß angelegte skulpturale Konstruktionen oder Rekonstruktionen bestimmter Objekte oder Räume, die sich auf historische und kulturelle Ereignisse beziehen. So nun auch in Moosach und Ebersberg.

Andy Webster (links) und Derek Tyman lieben partizipatorische Projekte und große Rekonstruktionen mit historischem Bezug. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Derzeit sind Tyman und Webster, zwei international renommierte Künstler, in Moosach zu Gast, bei der Ateliergemeinschaft von Maja Ott und Hubert Maier, wo es viel Platz gibt und Werkzeug, viele Maschinen und helfende Hände. All das haben die Engländer nämlich dringend gebraucht für ihr Vorhaben, eine maßstabsgetreue Kopie der "Maverick Concert Hall" aus Woodstock zu bauen - oder zumindest deren auffällige Fassade. Ursprünglich sollte das Holzgerüst für eine gewisse Zeit die Galerie des Ebersberger Kunstvereins zieren - als Teil des Skulpturenprojekts der Stadt - doch diverse behördliche Vorgaben machten diese Idee letztlich zunichte. Das größte Hindernis: die Alte Brennerei im Klosterbauhof steht unter Denkmalschutz.

So sollte die Alte Brennerei mit Maverick-Fassade aussehen. Leider machten die behördlichen Auflagen diesen Plan zunichte. (Foto: Veranstalter)

Also erklärte sich Bildhauer Maier bereit, nicht nur die Entstehung der Rekonstruktion bei sich zu beherbergen, sondern auch eine damit verbundene Veranstaltung. Die außergewöhnliche Fassade ziert nun, nach einer guten Woche Arbeit, die Außenwand der Moosacher Werkhalle. Das Gerüst ist aus einfachen Latten gebaut, etwa sieben Meter hoch und 14 breit. Im oberen Teil befinden sich fast 60 schräg angeordnete Sprossenfenster, unten gibt es fünf große Spitzbogen, quasi die Eingänge. Hochgezogen wurde es wie ein klassischer bayerischer Maibaum, mit Hilfe der Nachbarschaft.

Noch am Boden: Andy Webster, Hubert Maier und Derek Tyman (von links) zimmern das Gerüst zusammen. (Foto: Christian Endt)
(Foto: Peter Hinz-Rosin)
Hoch Hinaus: Andy Webster schraubt die letzten Fassadenteile an. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Doch zurück zum Original: Um 1900 herum gründete eine kleine Gruppe von Künstlern, Schriftstellern und Musikern in den Wäldern nahe der Stadt Woodstock am Rande von New York City eine alternative Gemeinschaft. Benannt wurde diese nach dem Schriftsteller Hervey White, der als Freigeist galt. Die "Maverick Colony" war geboren.

Moosach sei ein kleines Utopia, schwärmen die beiden englischen Künstler

Bereits 1916 bauten die Mitglieder mitten im Wald eine Konzerthalle: Das rustikale Gebäude mit seinem rechteckigen Grundriss und einem mit Holzschindeln gedeckten Satteldach besteht aus grob behauenen Balken und breiten Brettern. Was Tyman und Webster heute besonders begeistert: dass die Halle ohne die Dienste eines Architekten, sondern von Künstlern für Künstler geplant und gebaut wurde. Denn die beiden Engländer arbeiten selbst sehr gerne mit anderen zusammen, der partizipatorische Prozess ist für sie ein wichtiger Teil ihres Schaffens. Insofern sei das offene Haus in Moosach der ideale Ort für das Projekt: "Wir lieben es, hier zu sein", sagt Webster und grinst. Moosach sei ein kleines Utopia.

Ein Gebäude von Schönheit und Bedeutung: die Maverick Concert Hall in den Wäldern bei Woodstock wurde 1916 von Künstlern erbaut. (Foto: Veranstalter)

Obwohl also ohne Architekt erbaut, wurde die Maverick Concert Hall sofort als ein Gebäude von Schönheit und Bedeutung erkannt. Insbesondere die große Front mit ihrer auffälligen Anordnung von diagonalen Fenstern über vier großen Türen prägt sich schnell ins Gedächtnis ein. Und: Der Saal wird heute noch für Konzerte genutzt. Am berühmtesten ist die kleine, rustikale Halle aber wohl für eine bestimmte Aufführung von einem der führenden Avantgarde-Komponisten der Nachkriegszeit und einem der einflussreichsten Musiker des 20. Jahrhunderts: John Cage. Im Jahr 1952 nämlich feierte dort im Wald dessen legendäres Werk "4.33" Premiere. Ein Datum, das sich nun bald zum siebzigsten Mal jährt.

Ein Maverick? John Cage, geboren 1912 in Los Angeles, gestorben 1992 in New York City, gilt er als einer der weltweit einflussreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Dieses Porträt entstand 1990 in Berlin. (Foto: O. Behrendt/imago images)

Mit dem Stück, das gemeinhin als "vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden Stille" bezeichnet wird, wollte Cage zeigen, dass die Abwesenheit von Musik nicht dasselbe ist wie Stille. Das Publikum sollte sich des Kontextes der Aufführung bewusst werden und auf die zufälligen Klänge um sich herum hören: den Gesang der Vögel, den Wind in den Bäumen, den Regen auf dem Dach, die Geräusche der Zuhörer selbst. In der Maverick Concert Hall sah man, wie sich der Pianist David Tudor an den Flügel setzte und zu Beginn des Stücks den Deckel der Tastatur schloss. Einige Zeit später öffnete er ihn kurz, um das Ende des ersten Satzes zu markieren. Für den zweiten und dritten Satz wurde dieser Vorgang wiederholt.

So könnte es damals ausgesehen haben im Wald bei Woodstock, als Cages legendäres Stück "Stille" dort uraufgeführt wurde. (Foto: Veranstalter)

Cage gilt als Miterfinder der Happening- und der Performance-Kunst; die Fluxus-Bewegung entstand im Wesentlichen aus den Kursen, die er in den späten 50ern gab. In der Welt der klassischen Musik gelten seine Kompositions- und Aufführungsmethoden jedoch nach wie vor als mindestens unkonventionell - oft wird er als Außenseiter betrachtet, als Maverick. Kein Wunder also, dass Tyman und Webster auch ihm huldigen wollen mit ihrem Projekt. Es gehe um eine Referenz an Cage, sagt Webster, um eine Hommage. "Es erscheint uns sowohl spielerisch als auch poetisch, einen Maverick-Konzertsaal nach Ebersberg zu holen - einen Ort, den es sprachlich nicht wirklich gibt und der für die Aufführung eines Stücks berühmt wurde, das es nicht gab."

Rund um die Fassade gibt es diverse Performances, auch das legendäre Stück "4.33" wird aufgeführt

Rund um die Maverick-Fassade in Moosach sollen am Sonntag, 10. Juli, ab 14 Uhr diverse Cage-Performances stattfinden, auch eine Aufführung von "4.33" wird es geben - diesmal allerdings nicht am Flügel. Die Blech-Bagage, eine kleine, wilde Blaskapelle aus Ebersberg, hat sich bereiterklärt, die Stille zu interpretieren. Peter Kees, Projektleiter vonseiten des Kunstverein, wird dirigieren. Ein Klavier soll dennoch zum Einsatz kommen: Tyman und Webster haben ein altes Instrument besorgt, das aber nicht bespielt werden, sondern immer wieder geräuschvoll die Straße auf- und abrollen soll. Die beiden englischen Künstler denken dabei an die berühmten "Tumbleweeds", jene fliegenden Heuballen aus alten Westernfilmen - ein ikonisches Bild, ein "Running Gag".

Eigentlich keine Experten für Stille: Die Musikanten der Blech-Bagage aus Ebersberg werden John Cages legendäres Stück zelebrieren. (Foto: Veranstalter)

Bis Ende Juli ist die Maverick-Fassade in Moosach zu sehen, dann wird sie abgebaut, in Teile zerlegt und nach Ebersberg geschafft. Dort, im Klosterbauhof beim Kunstverein, soll aus dem Holz Neues entstehen, vermutlich drei Bühnen, aber das ist noch nicht ganz klar. Fest steht jedenfalls, dass am Montag, 29. August, ein wichtiger Tag sein wird, denn dann soll in der Kreisstadt das Jubiläum der Cage-Uraufführung von 1952 so richtig begangen werden. Geplant ist ein Festival, das die Idee des "Mavericks" erforscht, sei es in der Kunst, Wissenschaft, Musik oder Politik. Laut Kees haben sich bereits diverse überregionale Künstlerinnen und Künstler angekündigt, und auch die beiden Engländer werden freilich wieder dabei sein. Ob Tyman und Webster selbst Mavericks sind? Mag sein. Ein bisschen crazy sind sie allemal.

Andy Webster und Derek Tyman: "Maverick-Fassade", Ateliers Moosach, Grafinger Straße 14, Eröffnung am Sonntag, 10. Juli, um 14 Uhr, zu sehen bis 31. Juli. Fortsetzung in Ebersberg, Festival am Montag, 29. August, beim Kunstverein im Klosterbauhof. Infos unter www.kunstvereinebersberg.de .

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