Fotografie:Ein Tanz mit der Kamera

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Mona Ahmed lebte ausgestoßen von der indischen Gesellschaft jahrelang auf einem Friedhof. Dayanita Singh lässt sie in ihren Bildern, hier "Mona Montage" von 2021, wieder Teil der Gesellschaft werden. (Foto: Dayanita Singh)

Die indische Künstlerin Dayanita Singh schafft mit ihren Fotografien ein bewegendes Abbild der indischen Gesellschaft - und eine sich ständig ändernde Ausstellung in der Villa Stuck.

Von Evelyn Vogel, München

Eben noch hat sie an einer im Raum stehenden Bildfläche eine Fotografie ausgetauscht, um das Gesamttableau zu verändern, schon eilt die indische Künstlerin Dayanita Singh zur nächsten Installation. Öffnet Teakholzflügel, schiebt sie zusammen, klappt Elemente eines Paravents um, lässt so Ein- und Ausblicke auf die jeweils andere Seite entstehen und verändert zusätzlich die Form des Objekts im Raum. Am wichtigsten aber: Singh schafft dadurch neue Zusammenhänge zwischen ihren Bildern, die in der neuen Ausstellung "Dancing With My Camera" in der Villa Stuck zu sehen sind. Doch die Verbindungen, die sie zwischen den Bildern herstellt, sind nie abgeschlossen. Alles bleibt in Bewegung.

Wo beispielsweise eben noch ausschließlich Aufnahmen der von ihr über vier Jahrzehnte fotografierten Mona Ahmed zu sehen waren, schieben sich diese nun zwischen unzählige Fotos, die Singh im Laufe der Jahre von indischen Musikern gemacht hat. Für Singh war Mona Ahmed eine außergewöhnlich faszinierende Person. Sie lernte sie 1989 kennen, als die 1961 in Delhi geborene Singh für die Londoner Times eine Fotoreportage über Transgender und intersexuelle Menschen realisieren sollte. Mona war von ihrer Familie, später auch von der Gemeinschaft der Eunuchen verstoßen worden und lebte, außerhalb der streng hierarchisch organisierten indischen Gesellschaft, bis zu ihrem Tod 2017 jahrelang auf einem Friedhof in Delhi, wo sie dann auch begraben wurde.

In dem Göttinger Verleger Gerhard Steidl fand Singh einen "Mitverschwörer"

An anderer Stelle lässt Singh durch das Verschieben der Bildträger eine Bildreihe der tanzenden Mona inmitten anderer Tänzer auftauchen. Wie ein roter Faden ziehen sich die Aufnahmen Monas wie auch die einiger anderer Personen - des Tabla-Spielers Ustad Zakir Hussain oder von Singhs Mutter - durch die Ausstellung. Singhs Aufnahmen zeigen verschiedenste Menschen beim Tanz, professionelle Tänzer, Kinder, die wie selbstvergessen vor sich hin tanzen, engste Familienangehörige, Freunde und Verwandte von Singh, die bei Festen und Feiern miteinander tanzen. Wie beiläufig schaffte die Fotografin, die sich jahrelang mit indischer Musik, mit der Veränderung der indischen Gesellschaft, mit Freundschaften, Geschlechterrollen und vielem mehr beschäftigt hat, eine Abbild der indischen Gesellschaft. Und so wie sie diese beim Tanz beobachtet, tanzt auch Dayanita Singh - allerdings mit ihrer Kamera. Mit der Hasselblad vor dem Körper umkreist sie die Menschen. Dabei ist sie selbst ebenso ständig in Bewegung, wie sie ihr Medium durch die Installationen mit austauschbaren und beweglichen Holzgestellen in Bewegung hält. Es ist, als ob Dayanita Singh diesen in einem Foto eingefrorenen Moment wieder zur Bewegung verhelfen wollte.

Dayanita Singh, die mit der Ausstellung "Dancing With My Camera" derzeit in der Villa Stuck zu sehen ist, hier inmitten alter Kontaktbögen. Die Aufnahme hat sie "Let's See" genannt. (Foto: Dayanita Singh)
Dayanita Singh: "Corbu Pillar" von 2021. Die einzelnen Bilder lassen sich austauschen und die Elemente zu einer neuen Bild-Raum-Skulptur verschieben. (Foto: Courtesy the artist and Frith Street Gallery, London)
Fotografische Erzählungen in Form von Leporellos: Dayanita Singhs "Museum Bhavan" von 2017, hier in einer Installation vor dem Taj Mahal. (Foto: Courtesy the artist and Steidl, Göttingen)

In den meisten Fällen werden die Schwarz-Weiß-Aufnahmen, deren Anordnung an einen Kontaktbogen erinnert, von schlichten Teakholzrahmen und -gestellen gehalten. Mitunter stehen ein Tisch und Hocker davor oder dahinter. Andere sind in Form von Leporellos aufgestellt oder hängen wie aufgeklappte Buchseiten als Reader an den Wänden. Überall finden sich Boxen und Koffer, die weitere Aufnahmen enthalten. Singh weiß selbst nicht so genau, wie viele Aufnahmen aus ihren Sammlungen, die sie als "Museum" bezeichnet, ausgestellt sind. In jedem Fall ist da immer noch genug Material in den Kästen, dass die Kuratoren - in der Villa Stuck sind dies Stephanie Rosenthal, Helena Pereña und Sabine Schmid - die Anordnungen immer wieder verändern können. Was für die Besucher bedeutet: Selbst wenn man sich einmal genug Zeit genommen hat, tief in dieses Abbild der indischen Gesellschaft einzutauchen, kann man bei jedem neuen Besuch andere Entdeckungen machen. Einzig die Serie der Architektur-Montagen, bei denen nichts so ist, wie es scheint, sowie die rot leuchtenden, von Bleichspuren gekennzeichneten "Time Measures"-Päckchen - an einer Wand im neuen Atelier sehr schön raumhoch angeordnet - scheinen für die Ausstellungsdauer fix zu sein.

"Fotografien sind mein Rohmaterial. Ich mache gerne mobile Museen und Bücher, die Objekte werden." So fasst Dayanita Singh ihre Arbeit zusammen. Die Arbeit endet bei ihr also nie mit dem Foto. Während sie ihre Ausstellungen - Dayanita Singh hat inzwischen weltweit ausgestellt, war mit dieser Präsentation zuvor im Berliner Gropiusbau und geht im Anschluss nach Luxemburg und Porto - selbst ständig verändert, fragt man sich, wie das bei Büchern funktionieren soll. Doch auch hier hat sie einen Verleger gefunden, der ähnlich konsequent an Publikationsformen arbeitet wie sie: den Göttinger Verleger Gerhard Steidl. Er versteht ihre Vorstellung des mobilen Konzepts, das verschiedene Formen annehmen kann, und hat sogar nach ihren Wünschen ein Buch mit 88 unterschiedlichen Covern realisiert. Singh, die sich selbst als "Offset-Künstlerin" bezeichnet, nennt Steidl, der bereits 2001 ihr erstes Buch gedruckt hat, ihren "Mitverschwörer". Das Gespräch zwischen beiden am kommenden Samstag dürfte also aufschlussreich werden.

Gerade erst hat Dayanita Singh, als erste Frau aus dem asiatischen Raum, den renommierten Hasselblad-Preis erhalten. Sie habe, so die Jury, "neue Wege geformt, wie man sich mit Bildern auseinandersetzt". Der mit zwei Millionen Schwedischen Kronen (derzeit gut 180 000 Euro) dotierte Preis wird seit 1982 jährlich vergeben. Die Preisträgerliste gleicht einem Who is Who der weltweiten Fotoelite. Und interessant: 1997 erhielt Singh von dem im Jahr zuvor mit dem Hasselblad-Preis ausgezeichneten Robert Frank von dessen Preisgeld ein Stipendium. Ihre Hasselblad-Kamera begleitet Dayanita Singh seit Jahrzehnten, sie sei längst ein Teil ihres Körpers geworden, sagt Singh. Daher sei Fotografieren für sie ein körperlicher Akt, ein Tanz mit der Kamera. Was die Ausstellung "Dancing With My Camera" eindrucksvoll belegt.

Dayanita Singh: Dancing With My Camera, bis 19. März, Museum Villa Stuck , Prinzregentenstr. 60, Gespräch zwischen Dayanita Singh und dem Verleger Gerhard Steidl: Sa., 22. Okt., 15 Uhr

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