NS-Zwangsarbeiterkinder:Wo die weißen Särge liegen

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1986 veröffentlichte SZ-Journalist Hans Holzhaider erste Berichte über die Kinderbaracke von Indersdorf. Dort verhungerten Babys von NS-Zwangsarbeiterinnen. Der "Weg des Erinnerns" bringt dies erneut ins Bewusstsein.

Von Thomas Radlmaier, Dachau

Der "Weg des Erinnerns" verläuft nicht gerade, er macht zwei Kurven, geht bergauf und bergab. Er beginnt unweit der Klostermauer in Indersdorf. Hier starben die Kleinkinder. Und er endet am Friedhof an der Maroldstraße, wo die Säuglinge in kleinen weißen Särgen begraben wurden.

An einem sonnigen Sommervormittag ist Hans Holzhaider hier am Friedhof angekommen. Der 75-Jährige Journalist hat 1986 ein dunkles Kapitel der Indersdorfer Geschichte offengelegt. Damals war er Redakteur der SZ Dachau und berichtete als erster über die sogenannte Kinderbaracke von Indersdorf. Holzhaider sagt: "Das sind Geschichten, die einen das ganze Leben nicht mehr loslassen."

Erwin Farkas als Jugendlicher vor dem Wasserturm in Markt Indersdorf. (Foto: privat)

Dort, wo heute der Kindergarten Sankt Vinzenz steht, ließen die Nationalsozialisten im letzten Kriegsjahr eine Holzbaracke errichten, um darin Säuglinge von Zwangsarbeiterinnen unter menschenunwürdigen Bedingungen unterzubringen. Hintergrund war ein Erlass Heinrich Himmlers, des Reichsführers der SS. Darin war geregelt, wie künftig mit schwangeren Zwangsarbeiterinnen umzugehen sei.

Fast jedes zweite Kind starb kurz nach der Einlieferung

Gebaren die Frauen ein Kind, mussten sie dieses sofort in die Einrichtungen geben, die Himmler zynisch "Ausländerkinderpflegestätten" nannte. Die Mütter mussten häufig auf Bauernhöfen schuften. Viele versuchten verzweifelt, ihre Neugeborenen zu sich zurückzuholen. Doch oft sahen sie ihre Kinder nie wieder. In Indersdorf starben mindestens 35 Kinder, die meisten wurden nur wenige Tage oder Wochen alt.

Weg des Erinnerns Indersdorf, Weg des Erinnerns an die Kinderbaracke, in der viele Kinder von NS-Zwangsarbeiterinnen gestorben sind, Hans Holzhaider, npj/Foto: Jørgensen (Foto: N.P.JØRGENSEN)

Mehr als 40 Jahre lang redete in Indersdorf niemand darüber. Bis Hans Holzhaider anfing zu recherchieren. Ende August 1986 erschienen zwei große Artikel über die Kinderbaracke von Indersdorf in der SZ Dachau. Jetzt, weitere 35 Jahre später, eröffnet der Heimatverein Indersdorf am 12. September den "Weg des Erinnerns". Der Feldweg führt vom Kindergarten Sankt Vinzenz zum heutigen Bezirksfriedhof an der Maroldstraße. Fünf Infotafeln erinnern an das Schicksal der Kleinkinder, die in der Baracke starben, sowie an das der Waisenkinder, die nach dem Krieg im Kinderzentrum im Kloster Indersdorf unterkamen.

Zur Eröffnung haben sich viele Politiker und die Vertreter des polnischen und ukrainischen Generalkonsulats angekündigt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat ein Grußwort verfasst. Die Historikerin Anna Andlauer ist maßgeblich an dem Projekt des Heimatvereins beteiligt. Sie erforschte jahrelange die Geschichte der Kinderbaracke und des Kinderzentrums Indersdorf. "Ich bin auf Ihren Spuren gewandelt", sagt Andlauer zu Holzhaider, als sie beide eine der Infotafeln betrachten. Andlauer ist sich sicher: Ohne Holzhaiders Recherchen und Artikel, gäbe es diesen Weg heute nicht.

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Im letzten Kriegsjahr sieht der Schüler Konrad Menter nahe Dachau wie Kleinkinder von Zwangsarbeiterinnen beerdigt werden - viele sind verhungert. Nun soll an die kaum wahrgenommenen NS-Opfer erinnert werden.

Von Thomas Radlmaier

Der Filmregisseur Hanuš Burger, der 1945 für die US-Armee einen Film über die Befreiung des KZ Dachau drehen sollte und später in München lebte, erzählte Holzhaider in den Achtzigern von dem Kinderheim im Kloster Indersdorf. Holzhaider wollte mehr erfahren. Ein Mitarbeiter der Gemeinde Indersdorf suchte für ihn in alten Akten, die im Bauhof eingelagert waren. Er fand unter anderem "das Personenstandsbuch der Kinderbaracke". Dieses enthielt die Namen von 63 Kindern und deren Eltern. Zudem ging aus dem Heft hervor, dass fast jedes zweite Kind kurz nach seiner Einlieferung in der Baracke starb - das Schicksal von mehr als 20 Kindern kann bis heute nicht aufgeklärt werden.

Holzhaider recherchierte weiter. Er fand entscheidende Hinweise im Sterberegister der Gemeinde. Dort wurden die meisten Todesfälle der Kinderbaracke vermerkt. Zynisch muten die angegeben Todesursachen an: Brechdurchfall, Magen- und Darmerkrankungen, Herzschwäche. Die Wahrheit ist vielmehr, dass ein Großteil wahrscheinlich an den Folgen massiver Mangelernährung und der menschenunwürdigen Unterbringung gestorben ist.

Holzhaider konnte sogar eine Mutter ausfindig machen, deren Kind in der Indersdorfer Baracke gestorben war. Diese lebte in Dachau von einer monatlichen Rente von 312 Mark, von der sie 108 Mark an die Krankenkasse zahlen musste - und das obwohl sie ihr ganzes Leben lang hart gearbeitet hat. Sie erzählte dem Journalisten, dass sie 1944 einen Sohn auf die Welt gebracht hatte. Damals arbeitete sie auf einem Gut in Unterweilbach und musste schließlich ihr Kind nach Indersdorf bringen.

Ein paar Tage später bekam sie Post: "Ich muss nach Indersdorf. Ich bin hin und da ham's mir das Kind tot hingelegt, eingewickelt. Es war über und über voll Kot", so die Mutter damals zu Holzhaider. Dieser sprach für seine Artikel auch mit Bauern aus dem Landkreis, bei denen im letzten Kriegsjahr Zwangsarbeiterinnen schuften mussten, sowie mit einer ehemaligen Verwaltungsangestellten, die mit der Kinderbaracke vertraut war.

Viele Organisationen, aber auch Privatmenschen unterstützen den Weg des Erinnerns

Holzhaider beendet seinen zweiten Artikel so: "Mehr ist nicht zu berichten. Nur noch dies: Die toten Kinder wurden auf dem kleinen Friedhof neben dem jetzigen Indersdorfer Krankenhaus begraben. (...) Es gibt kein Kreuz, keine Tafel - es gibt nichts, das an die 31 toten Kinder ( damals ging man noch von 31 toten Kindern aus, heute von mindestens 35, Anm. d. Red.) von Indersdorf erinnert."

Es gab kaum Reaktionen auf die Artikel. Damals habe man viel über die NS-Vergangenheit schreiben können, "ohne das was passiert", sagt Holzhaider. Immerhin ließ die Gemeinde im Jahr 1987, also ein Jahr nach Erscheinen der Artikel, ein steinernes Kreuz am Bezirksfriedhof aufstellen. Darauf steht unter anderem: "Zum Gedenken an 31 Kinder von Fremdarbeiterinnen und verschleppten Personen, die während des 2. Weltkriegs im Kinderheim Indersdorf verstorben sind und in diesem Friedhof beerdigt wurden."

Hans Holzhaider steht jetzt vor diesem Kreuz. Das sei "Pseudogedenken", damit werde nichts rübergebracht. Viel besser gefallen ihm die drei Erinnerungssäulen, die direkt daneben in den Himmel stechen und in denen die Namen der 35 getöteten Kinder eingebrannt sind. Schüler hatten diese 2018 gebastelt. Zwischen dem Kreuz und den Säulen sehe man einen "deutlichen Unterschied in der Qualität des Erinnerns". Und auch den "Weg des Erinnerns" insgesamt findet Holzhaider toll. Es bewege ihn, dass dieser nach all der Zeit aufgrund des "Engagements von Anna Andlauer" entstanden sei.

Andlauer und Holzhaider gehen vom Bezirksfriedhof wieder in Richtung Kindergarten Sankt Vinzenz. Hohe Maispflanzen ziehen an ihnen vorbei, davor recken unzählige Sonnenblumen ihre Köpfe ins Sommerlicht. Andlauer erzählt, wie viele Organisationen, Stiftungen, aber auch Privatmenschen den Weg des Erinnerns unterstützt haben.

Ein Indersdorfer Schlosser etwa hat die pulverbeschichteten Aluminiumplatten, auf denen die Informationstafeln stehen, hergestellt und montiert. Diese habe er dem Heimatverein Indersdorf um 5000 Euro günstiger überlassen, da er "etwas gegen Rassismus und Antisemitismus" beitragen wolle, erzählt Andlauer. Und auch die Bauern, denen die Maisfelder am Wegrand gehören, haben die Sonnenblumen extra gepflanzt, damit diese am Tag der Eröffnung den Weg schmücken. Damit die Erinnerung blüht.

© SZ vom 28.08.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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