Markt Indersdorf:"Jedes Kind konnte aussuchen, was es anziehen wollte"

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Bilder von damals zeigen Zofia Oglaza als zehnjähriges Mädchen beim Einkleiden. (Foto: privat)

Zofia Oglaza erinnert sich noch ganz genau an ihre Zeit im Auffanglager für geflüchtete Kinder in Indersdorf. 1945 kam sie zusammen mit ihrem Bruder Janusz dorthin. Zur Einweihung des Wegs des Erinnerns ist sie jetzt zurückgekehrt - zum ersten Mal allein.

Von Walter Gierlich, Markt Indersdorf

Unscheinbar steht die kleine Frau in der Menschenmenge, die sich am Indersdorfer Kindergarten Sankt Vinzenz versammelt. Dennoch, Zofia Oglaza ist eine gefragte Gesprächspartnerin für viele der Menschen, die am Sonntag an der Einweihung des "Wegs des Erinnerns" teilnehmen. Kein Wunder, denn sie ist eines der Kinder von Indersdorf, die nach dem Krieg im Kloster von einem UN-Team aufgenommen und betreut wurden. In Markt Indersdorf wurde 1945 das erste Auffanglager für geflüchtete Kinder der Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen (UNRRA) eingerichtet, in dem über tausend junge Menschen Zuflucht fanden: Überlebende von Konzentrationslagern, Kinder von Zwangsarbeitern, Waisen. Sie alle standen unter dem Schutz der humanitären Katastrophenhilfe, die ihnen neues Vertrauen in die Zukunft schenkte.

Geboren wurde Zofia Karpuk, wie sie mit Mädchennamen hieß, am 20. November 1935 im ostpolnischen Pinsk, das heute zu Belarus gehört. Als Neunjährige wurde sie zusammen mit ihrem vier Jahre jüngeren Bruder Janusz, der leider vor kurzem im Alter von 82 Jahren gestorben ist, und ihrer Mutter Janina nach Deutschland verschleppt. Die Geschwister lebten auf einem Bauernhof in Urfar beim niederbayerischen Malching, wo die Mutter als Zwangsarbeiterin schwer schuften und die Kinder leichtere Arbeiten verrichten mussten. Im Januar 1945 starb die Mutter an Erschöpfung, so dass die inzwischen zehnjährige Zofia und ihr kleiner Bruder Janusz allein im feindlichen, fremden Land zurückblieben. Für das zehn Jahre alte Mädchen war es zudem eine enorm verantwortungsvolle Aufgabe, sich um den sechs Jahre alten Buben zu kümmern.

Oglaza zusammen mit ihrem Bruder Janusz bei der Ankunft im Kloster Indersdorf mit dem Koffer, der jetzt im Museum ist. (Foto: Toni Heigl)

Nach der Befreiung durch die amerikanische Armee wurden die beiden polnischen Geschwister im Kloster Indersdorf aufgenommen. Zofia Oglaza erinnert sich noch "sehr, sehr gut an diese Zeit, nur dass die Mama nicht mehr da war. Ich war ja immerhin schon zehn Jahre alt", sagt sie im Gespräch, bei dem Bernadetta Czech-Sailer übersetzt, die im Landratsamt unter anderem zuständig ist für die Partnerschaft mit dem Landkreis Oświęcim. Sie habe noch die großen Flure im Kloster vor Augen, den Speisesaal, in dem es immer genügend zu essen gab, aber auch den Hof, wo man sich mit anderen getroffen und gespielt habe.

Im bewegenden Dokumentarfilm "Die Kinder von Markt Indersdorf" des Franzosen Théo Ivanez aus dem Jahr 2018 erzählen Zofia und Janusz über ihre Zeit in Indersdorf. Janusz sagt lächelnd: "Bei der Ankunft im Kloster war ich ständig damit beschäftigt, mich am Rock meiner Schwester festzuhalten, damit sie nicht zu weit weglief." Zofia erinnert sich im Film begeistert, dass Kleidung in Regalen gestapelt lag. "Und jedes Kind konnte sich aussuchen, was es anziehen wollte." Von den Geschwistern gibt es zudem nicht weniger als 14 historische Fotos, die von der UNRRA gemacht wurden. Sie zeigen unter anderem, wie die beiden mit ihrem Koffer ankommen, wie sie Kleidung erhalten oder wie sie in der Schulbank sitzen.

Oglaza ist eines der Kinder von Indersdorf, das von einem UN-Team 1945 betreut wurde. (Foto: Toni Heigl)

1946 wurden die Geschwister nach Polen repatriiert, wo sie in Waisenhäusern aufwuchsen. Sie habe als Kind immer davon geträumt, wieder einmal nach Indersdorf zu kommen, sagt Zofia Oglaza am Sonntag in ihrer kurzen Ansprache an der vierten Tafel des "Wegs des Erinnerns". Diese trägt den Titel "Für eine Zeit Indersdorfer" und zeigt auch das Schicksal der Karpuk-Kinder. Dank der unermüdlichen Indersdorfer Historikerin Anna Andlauer sei ihr Traum wahr geworden, sagt sie erfreut. 2009 ist sie zusammen mit ihrem Bruder, der es bis zum polnischen Handballnationalspieler brachte, erstmals wieder in der Marktgemeinde gewesen. Seitdem sind die beiden noch mehrmals gekommen, haben sich mit anderen ehemaligen Kindern aus dem Kloster getroffen und als Zeitzeugen ihre Geschichte geteilt. Nach dem Tod von Janusz ist Zofia Oglaza in diesem September nun zum ersten Mal alleine in Indersdorf. Kontakt zu anderen Bewohnern des ehemaligen internationalen Kinderzentrums habe sie nicht mehr, sagt die 85-Jährige. Ihre zwei besten Freundinnen aus der damaligen Zeit seien inzwischen verstorben.

Diesmal bleibt es nicht beim Besuch in Indersdorf, denn Anna Andlauer ist mit Zofia nach Urfar zu dem Bauernhof gefahren, auf dem ihre Mutter im Krieg Zwangsarbeit hatte leisten müssen. Danach hat sie erstmals den Friedhof in Rottalmünster aufgesucht, wo ihre Mutter beerdigt wurde. Schließlich konnte sie das Haus der Bayerischen Geschichte in Regensburg besuchen. Dort ist nämlich mittlerweile der Koffer ausgestellt, mit dem sie und ihr Bruder Janusz 1945 im Kloster Indersdorf ankamen.

© SZ vom 15.09.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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