Erinnerungskultur:Wut statt Trauer

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Die DGB-Jugend Bayern auf dem Weg zur Kranzniederlegung. (Foto: Toni Heigl)

Beim Gedenken an die Opfer der Novemberpogrome rechnet der SZ-Journalist Ronen Steinke vor knapp 300 Besuchern in der KZ-Gedenkstätte Dachau mit der Gleichgültigkeit vieler Menschen im Umgang mit den NS-Verbrechen ab.

Von Walter Gierlich, Dachau

"Erinnerung muss leben und erinnern heißt kämpfen", sagt Eva Wohlfahrt, die Vorsitzende der DGB-Jugend Bayern, in ihrer Begrüßungsrede für die knapp 300 Besucher der Veranstaltung zum Gedenken an die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 auf dem Appellplatz der KZ-Gedenkstätte Dachau. Die Nacht mit ihrem unvorstellbaren Ausbruch von Hass bildete den ersten großen Schritt auf dem Weg in die Shoah. Seit 69 Jahren schon erinnern die jungen bayerischen Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen an diese "Nacht der Schande, in der Synagogen und jüdische Geschäfte angegriffen und zerstört wurden. Eine Nacht, in der Jüdinnen und Juden gequält und ermordet wurden."

Die bayerische Gewerkschaftsjugend begann mit dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus bereits 1952, zu einer Zeit, als in der deutschen Gesellschaft die Verbrechen der NS-Zeit und vor allem Shoah verdrängt und beschwiegen wurde. "Erinnern heißt kämpfen, lautet das Motto unseres Gedenkens", betont Wohlfahrt noch einmal nachdrücklich. So soll der Opfer des Nationalsozialismus gedacht und gleichzeitig zu politischem Engagement, demokratischem Miteinander, Toleranz und Frieden aufgerufen werden. Denn gekämpft werde von den jungen Gewerkschaftern "täglich für eine solidarische Gesellschaft, in welcher es egal ist, woher man kommt, welche Hautfarbe man hat, wen man liebt oder welcher Religion man angehört". Der Kampf richte sich auch gegen das Paktieren mit rechten Parteien in den Parlamenten, gegen rechte Netzwerke in der Polizei, dafür, dass solch grauenhafte Anschläge wie jener in Hanau nicht geschehen können, bei dem neun Menschen mit Migrationshintergrund von einem Rechtsextremisten ermordet wurden.

"Für mich ist der Antifaschismus das Wichtigste, das wir haben, um zu verhindern, dass diese Rechtsradikalen Oberhand bekommen"

Wohlfahrt erinnert zudem an die im Juli mit 96 Jahren verstorbene Auschwitz-Überlebende Esther Bejerano. Die Sängerin, die fast bis zu ihrem Tod auf der Bühne stand, "war für uns eine ganz besondere Mitstreiterin gegen Faschismus und für gesellschaftlichen Zusammenhalt". Sie habe es verstanden, "mit jungen Menschen ins Gespräch zu kommen und die Erinnerung an die Schrecken des Holocaust wachzuhalten". Die DGB-Jugend-Vorsitzende beendet ihre Ansprache mit einem Zitat Bejeranos: "Für mich ist der Antifaschismus das Wichtigste, das wir haben, um zu verhindern, dass diese Rechtsradikalen Oberhand bekommen."

"Erinnern heißt kämpfen", zitiert unterdessen Ronen Steinke das Motto. (Foto: Toni Heigl)

Vom Appellplatz machen sich die Besucher auf den Weg zum Krematorium, wo traditionell die Gedenkrede gehalten und Kränze niedergelegt werden. An einer Station unterwegs werden zwei Biografien von Nazi-Opfern vorgelesen: Zuerst diejenige des Kommunisten und Widerstandskämpfers Anton Saefkow, der unter anderem im KZ Dachau interniert war und 1944 in Brandenburg ermordet wurde. Danach die des Ehepaars Maria und Heinrich List, das 1941 einen jüdischen Bekannten auf seinem Bauernhof versteckte und verraten wurde. Der Bekannte konnte sich in die Schweiz retten, Heinrich List kam ins KZ Dachau, wo er am 5. Oktober 1942 starb.

Am Krematorium dann hält der Journalist der Süddeutschen Zeitung, Ronen Steinke, die eigentliche Gedenkrede, geradezu eine zornige Abrechnung mit dem Umgang mit der NS-Geschichte in weiten Teilen der Gesellschaft und der Politik. An diesem Ort zu stehen, wo viele der mehr als 41 000 im Lager Dachau umgekommenen und ermordeten Häftlinge verbrannt worden sind, empfindet er als eine Überwältigung. "Wenn man anfängt, das an sich heranzulassen, wird der Druck sehr schwer, beinahe unerträglich", erklärt er. Nicht Trauer sei der richtige Umgang mit einem Ort wie diesem, erst recht nicht Furcht, denn die mache schwach, sondern Wut. "Die Shoah war ein Massenmord an Millionen Menschen." Sie müsse Zorn verursachen über die Gleichgültigkeit vieler Menschen diesem Verbrechen gegenüber. Da sollen Schulklassen in KZ-Gedenkstätten geschickt werden in der Erwartung, so das Problem des Antisemitismus und des Faschismus zu lösen. "Ein Thema jedes Jahr wieder im Sommerloch."

Es braucht nach Ansicht Steinkes aber auch Wut über Politiker, die heute sagen: "Die Migration ist die Mutter aller Probleme." Es brauche Wut, wenn jedes Mal von Einzelfällen gesprochen werde, wenn wieder Polizeibeamte erwischt werden, die rechtsextreme oder antisemitische E-Mails verschicken. Am Ende seiner recht kurzen Ansprache kommt Steinke auf das Motto der Veranstaltung zurück: "Erinnern ist nicht Selbstzweck, erinnern heißt kämpfen." Nach einer Gedenkminute werden Kränze am Denkmal für den unbekannten Häftling niedergelegt, musikalisch umrahmt von der Kapelle "Zwetschgendatschi" unter anderem mit italienischen Widerstandsliedern.

An diesem Montag wird von 19 Uhr an im Ludwig-Thoma-Haus an die Dachauer Opfer der Novemberpogrome erinnert. Sabine Bloch, Tochter des aus Dachau vertriebenen Kurt Bloch, wird aus dem Leben ihres 1961 gestorbenen Vaters berichten. In Dachau suchten zwei SA-Männer bereits in der Nacht auf den 9. November mit einer Namensliste in der Hand 15 jüdische Frauen und Männer auf und zwangen sie, die Stadt "vor Sonnenaufgang" zu verlassen. In der nächsten Nacht brannten in Deutschland die Synagogen. Wenig später wurden etwa 11 000 jüdische Männer ins KZ Dachau verschleppt, unter ihnen auch die Dachauer Kurt Bloch, Samuel Gilde und Julius Kohn. Gilde und Kohn und die früheren Dachauer Alice Jaffé, Vera und Hans Neumeyer, Melitta und Max Wallach wurden später in den Vernichtungslagern ermordet.

© SZ vom 08.11.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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