Dachau:Gegen den Strom

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Autos dürfen bald wieder in beiden Richtungen in der Altstadt unterwegs sein. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Seit sechs Wochen gilt die Einbahnstraßenregelung in der Dachauer Altstadt. Der Oberbürgermeister will noch keine Bilanz ziehen, dafür tun es die Geschäftstreibenden. Einige verzeichnen weniger Kunden, niemand hat Verständnis für die Ausnahme der Busse.

Von Joshua Beer, Dachau

Auch wenn sie selten geworden sind, es gibt sie noch, Szenen wie diese: Ein Lieferwagen kommt an einem Vormittag in der Konrad-Adenauer-Straße, Höhe Wieningerstraße, zum Stehen. Dabei hat er alles richtig gemacht, er fährt in Richtung Rathaus, im vorgeschriebenen Uhrzeigersinn. Ihm kommen sechs oder sieben Autos entgegen, die die Einbahnstraße falsch befahren. An den Seiten parkende Pkws, nichts bewegt sich. Der hilflose Fahrer des Lieferwagens versucht, sich rauszurangieren. Von der Wieningerstraße kommt ein Fahrer, sieht das Chaos rechts und biegt kurzerhand nach links ab, also wider die Einbahnstraße. Wer will es ihm übel nehmen? Es sind diese Situationen, die die am 1. Oktober in Kraft getretene Einbahnstraßenregelung in der Dachauer Altstadt eigentlich verhindert - sofern man sie beachtet.

Die probeweise für ein Jahr geltende Maßnahme soll die Aufenthaltsqualität in der Altstadt steigern und den Verkehr beruhigen. Von der Regel ausgenommen sind die Linienbusse, die im Zehn-Minuten-Takt den Altstadtring in beide Richtungen befahren. Nach wie vor kommen sich die großen Fahrzeuge - auch ganz ohne Pkws - in den Engstellen der Konrad-Adenauer- und der Augsburger Straße ins Gehege. Sind nach sechs Wochen Altstadt mit Einbahnstraße Auswirkungen spürbar?

Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD) hält es für verfrüht, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Man müsse zunächst belastbare Verkehrsdaten abwarten. Allerdings: Es lägen - bis auf eine - keine Beschwerden von Altstadthändlern bei ihm vor. "Ich habe den Eindruck, dass die Geschäftsleute ebenso wie die Anwohner und Verkehrsteilnehmer geduldig und interessiert abwarten, wie sich die Probephase weiter entwickelt", sagt Hartmann. Er habe sogar hin und wieder positives Feedback vernommen.

Für viele ein Schwachpunkt: Linienbusse sind von der Dachauer Einbahnstraßenregelung ausgenommen. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Die Stadt mag noch keine Bilanz ziehen wollen, einige der besagten Geschäftsleute sind da weniger zimperlich. Allen voran Juwelier Ludwig Stöckl, der die Regelung von Beginn an rigoros - und nun auch mit juristischen Mitteln - bekämpft. Von ihm stammt die erwähnte Beschwerde. "Schildbürgerstreich" nennt er die Maßnahme. Sie habe kein Konzept, vergraule Geschäftsleute und richte sich gegen Autofahrer. Viele seiner Kunden kämen vom Land, seien alt oder weniger gut zu Fuß: "Die vergisst man." Der ÖPNV sei für sie derzeit keine echte Alternative, um in die Stadt zu kommen.

Andere sehen es weniger drastisch. "Es ist auf alle Fälle besser als vorher", sagt etwa Marcus Rössler, Inhaber des Schuhhauses Rössler an der Konrad-Adenauer-Straße. Der Mann ist in der Altstadt verwurzelt: "Ich beurteile das aus der Sicht von drei Generationen." Dennoch: "Das ist alles nur halbherzig umgesetzt." Zunächst einmal würden einige Autos in der dazugewonnenen Freiheit schneller als vorher den Altstadtberg hinauffahren. Dem könne man leicht mit kleinen Bodenwellen entgegenwirken. Viel schwerer wiege aber ein anderer Makel: die Ausnahme für die dicken Linienbusse. Solange diese gelte, sei die Zielvorgabe nur "mangelhaft erfüllt", formuliert es Rössler.

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:Was fehlt, ist die Konsequenz

Die Bemühungen um eine verkehrsberuhigte Innenstadt, womöglich mit dem Ziel eines autofreien Stadtkerns, sind unterstützenswert. Die aktuelle Regel aber ist zu lasch umgesetzt und nur eine Stellschraube unter vielen unangetasteten.

Kommentar von Joshua Beer

Damit trifft er einen wunden Punkt. Die Busregelung stößt bei vielen auf Unverständnis, eben auch bei Geschäftstreibenden. Für Xhavit Morina, Betreiber des Cafés Corso an der Martin-Huber-Treppe, ist sie das Hauptargument gegen die Einbahnstraße. "Da!", sagt er und zeigt aus dem Fenster des Cafés. Dort brettert ein kaum besetzter Bus zum Rathaus hoch. "Riesengroß und zum Teil völlig leer. Wozu das Ganze?" Er hält die Umsetzung der Regelung für "Nonsens" und auch "irgendwo geschäftsschädigend". Er würde lieber zurück zur vorherigen Situation - nur mit kleineren Bussen wie etwa die City-Busse.

Der Grund für die missliebige Ausnahmeregelung sind feststehende MVV-Fahrpläne für 2022. Schuhhausbetreiber Rössler dazu: "Ja mei, dann muss der Plan halt geändert werden, wir sind doch im Jahr 2021." Der MVV sieht das allerdings nicht so flexibel. Bei Inkrafttreten der Einbahnstraßenregel erklärte MVV-Justiziar Martin Schenck, dass die Fahrpläne bereits "weitestgehend abgestimmt" seien. Grund sei der Redaktionsschluss für die gedruckten Fahrpläne Mitte Oktober. "Modifikationen mit weitreichenden Folgen" wie eine veränderte Linienführung in der Altstadt würden einen mehrmonatigen Planungsvorlauf erfordern. Man müsse zudem Ersatz-Haltestellen einrichten, was wiederum extra Zeit und Geld koste. Generell seien unterjährige Fahrplananpassungen "suboptimal", so Schenck. An den Umständen hat sich nichts geändert. Die Stadtwerke seien zwar beauftragt, alternative Linienführungen auszuloten, teilt OB Hartmann mit. Während der einjährigen Probephase werde es aber zu keiner Umstellung kommen. Allerdings: Sollten neue Erkenntnisse aufkommen, werde die Stadt "womöglich kleine Änderungen abwägen".

Geschäftstreibende wie Heide Schlemmer, Inhaberin vom "Fass", sehen die Umsetzung kritisch. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Den Altstadthändlern hilft das vermutlich wenig. Ihre Meinung hat Gewicht: Bereits 2003 wurde eine Einbahnstraßenregelung nach sechs Monaten Probephase auf Betreiben von Altstadthändlern wieder kassiert. Heide Schlemmer, Inhaberin vom "Fass", sagt heute: "Es ist ruhiger draußen, manchmal zu ruhig." Der Parkplatzmangel bestehe ja weiterhin. Nur kommt jetzt hinzu, dass man einmal mehr zirkulieren muss, wenn man einen freien Platz verpasst. Umdrehen ist nicht. Einige würden die Ehrenrunde nicht in Kauf nehmen und wieder wegfahren. Verlorene Kunden. "Aus Geschäftssicht ist die Regelung nicht so belebend", urteilt sie. Marcus Rössler hat jedoch auch hierfür eine Lösung: mehr und vor allem schräge Parkplätze. Letzteres würde das lästige Rangieren hinfällig machen.

Auch Sabine Birkholz-Zwerger von "Sinneslust" ist unzufrieden. Woran es genau liegt, dass die Kundenfrequenz abgenommen hat? "Wir wissen es nicht", so Birkholz-Zwerger. Es sei insgesamt entspannter, was ebenso an den Ferien oder an den explodierenden Corona-Zahlen liegen könnte. Dennoch ist die Einbahnstraße laut der "Sinneslust"-Chefin "ein Hindernis mehr", um in der Altstadt einzukaufen. Es mache das Einfahren umständlicher. "Wir wollen, dass es zurückgedreht wird, damit es wieder unkomplizierter wird", sagt die Geschäftsfrau.

So denken einige, aber nicht alle Altstadthändler. Schuhhaus-Inhaber Rössler sieht zumindest Potenzial: "Man müsste es nur gescheit umsetzen, dann wäre das eine wunderbare G'schicht." Andere Städte kriegten es auch hin, nur Dachau nicht.

© SZ vom 13.11.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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