Coronavirus:Es fehlt das Nötigste

Lesezeit: 4 min

Brivian Ammo (rechts) und ihre vier Kinder - zehn, acht, sechs und fünf Jahre alt - beziehen Hartz IV. Seit die Kinder nicht mehr in die Schule gehen und alle fast immer zuhause sind, wird es eng in ihrer kleinen Wohnung. Ein kurzer Spaziergang an der frischen Luft sorgt für Entspannung. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Brivian Ammo und ihre vier Kinder leben von Hartz IV, das Coronavirus trifft Menschen wie sie besonders hart. Es fehlt an Geld für Essen, an Platz und auch der Unterricht zuhause ist ohne Laptop kaum möglich

Von Johanna Hintermeier, Karlsfeld

"Ich hatte Mitte April weniger als 100 Euro auf dem Konto", sagt Brivian Ammo. Die 29-Jährige ist alleinerziehende Mutter von vier Kindern. Seit der Schulschließung können drei ihrer Kinder nicht mehr kostenlos in der Schule essen, jetzt reicht das Geld nicht mehr. Ammo, die laut Postleitzahl in Allach-Untermenzing wohnt, fährt zum Hauptbahnhof München. Sie will zur Tafel gehen. Nur: dort wird ihr mitgeteilt, man sei nicht zuständig für ihren Wohnort, der läge ja in Karlsfeld. In einem halben Jahr könnte sie aber vorbeikommen für die Lebensmittelausgabe. Also wendet sich Ammo an die Tafel Dachau - auch die wollte anfangs nicht zuständig sein für den Straßenzug, in dem die fünfköpfige Familie lebt. Inzwischen werde sie aber von der Dachauer Tafel versorgt, teilt BRK-Kreisgeschäftsführer Paul Polyfka mit - obwohl die Familie ihren Wohnsitz offiziell nicht im Landkreis hat, wie er klar stellt.

Lena Steindl von der Caritas Dachau erklärt: "Das Problem ist, dass die Tafel München zur Caritas München gehört, ein christlich Wohlfahrtsunternehmen, die ihre Zuständigkeitsgebiete nach Pfarrgebieten aufteilt. Die Tafel Dachau gehört zum Bayerischen Roten Kreuz (BRK), die wiederum nach Regierungsbezirken, also Gemeinden aufteilen." Brivian Ammo habe zwar eine Münchner Postleitzahl, wohne aber in einem Gebiet, das zur Gemeinde Karlsfeld gehöre - für das so offiziell keine Tafel zuständig ist. "Wir haben vor einigen Jahren versucht das Problem mit der Caritas München zu klären - erfolglos", sagt die Sozialwirtin Steindl.

Seit Jahren empfängt Ammo Arbeitslosengeld II, im Volksmund Hartz IV genannt. Seit Jahren ringt sie jeden Monat darum, sich und ihre vier Kinder - zehn, acht, sechs und fünf Jahre alt - zu versorgen. 800 Euro bleiben der Familie netto im Monat - ohne Miete für die Genossenschaftswohnung, die wird vom Jobcenter direkt gezahlt. Und jetzt, seit der Corona-Krise die Familie in die Wohnung zwängt, reicht das Geld endgültig nicht mehr. Ammo lacht traurig, als sie ihren ältesten Sohn zitiert: "Mama, wenn ich größer bin, werde ich arbeiten, damit wir endlich Geld haben." Das sei "echt süß und gleichzeitig furchtbar", den eigenen 10-jährigen Sohn so etwas sagen zu hören. Die traurige Wahrheit ist, das Ammos Sohn mit diesem Wunsch wohl nicht alleine ist: Laut dem 2018 veröffentlichten Armutsbericht des Landkreises Dachau lebte 2015 jedes 23. Kind in einer Familie, die von Hartz IV lebt.

Brivian Ammo (rechts) und ihre vier Kinder - zehn, acht, sechs und fünf Jahre alt - beziehen Hartz IV. Seit die Kinder nicht mehr in die Schule gehen und alle fast immer zuhause sind, wird es eng in ihrer kleinen Wohnung. Ein kurzer Spaziergang an der frischen Luft sorgt für Entspannung. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Die Caritas Dachau hat der Familie Lebensmittelgutscheine im Wert von rund 175 Euro ausgestellt. Diese können in Supermärkten eingelöst werden. Normalerweise orientiert sich das Budget für Lebensmittelgutscheine am Hartz IV - Lebensmittelsatz, das sind 147,83 Euro im Monat für einen Erwachsenen, weniger als fünf Euro am Tag. Für Kinder sind es zwischen zwei und vier Euro für Nahrungsmittel täglich kalkuliert. "Das ist sehr wenig, gerade jetzt, da man viel zu Hause isst, wir rechnen bei der Caritas mit circa sieben Euro pro Person", sagt Steindl.

Ammos größte Sorge neben dem Essen: Seit der Schließung der Schulen hat keines der Kinder Aufgaben im Homeschooling erledigen können. Die Familie besitzt keinen Computer oder Laptop, auch einen Drucker gibt es nicht. "Meine beiden Mädels in der Grundschule waren schon versetzungsgefährdet, jetzt werden sie definitiv die Klassen wiederholen müssen, seit Wochen kann ich nur mit ihnen lesen oder Kopfrechnen", sagt Ammo. Die Lehrerinnen würden zwar Links und Pdfs schicken, aber die könne sie auf dem Handy nicht öffnen. "Wie sollen vier Kinder an meinem Handy Schule machen?", will Ammo wissen. Seit Montag geht die Mutter daher wöchentlich ins Sekretariat der Schule und lässt sich Arbeitsblätter ausdrucken.

Als Ammo beim Jobcenter München nach finanzieller Unterstützung für die Anschaffung eines digitalen Endgerätes nachfragte, hieß es zunächst, dass es so etwas nicht gäbe. "Die haben mir ein Darlehen- angeboten, aber was will ich mit zwei Pfändungen auf dem Konto mit einem Darlehn?", so Ammo. Es war dann die Nachbarin, die auf einen Antrag auf der Jobcenter-Website hinwies. Das Problem: Die Antragstellerin soll in Vorkasse für die digitalen Geräte und einen Drucker gehen, eine Summe zwischen 250 und 600 Euro, die die alleinerziehende Mutter nicht aufbringen kann. Sie wendet sich also an ihren Ex-Partner. "Er hat mir den Unterhalt für Mai vorgestreckt, damit meine Kinder wieder lernen können." Jetzt hofft Ammo, dass die Kosten bald vom Jobcenter zurückgezahlt werden.

Weder die Dachauer Tafel (im Bild) noch die Münchner Tafel fühlen für Familie Ammo zuständig. Nun bekommt sie Essensgutscheine von der Caritas. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Der Hartz IV-Regelsatz für Kinder zwischen sechs und 13 Jahren beträgt 308 Euro im Monat. Davon müssen Essen, Schulausrüstung und Kleidung finanziert werden. Laut des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) sind davon monatlich 2,68 Euro für Bücher und 14,60 Euro für das Sparen auf Schuhe vorgesehen. Die Gewerkschaft warnt, dass diese Leistungen keine soziale Teilhabe der Kinder ermögliche. Laut eines Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2010 wird Kindergeld zu dem auf das Arbeitslosengeld angerechnet. Der DGB kritisiert, dass das Geld damit nicht wirklich den Kindern zur Verfügung steht. 17,3 Prozent aller Kinder in Deutschland leben laut des Statistischen Bundesamtes in Armut. Das ist fast jedes fünfte Kind, der Landkreis liegt nur knapp unter diesem Durchschnitt. Laut der Bundesregierung sind Kinder aus Hartz IV Familien häufiger von psychischen Auffälligkeiten und Entwicklungsverzögerungen betroffen. Jüngst warnte nun der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte vor psychosozialen Störungen an Kindern durch das Kontaktverbot.

Auch bei Familie Ammo spitzt sich die Lage zu: "Wir leben zu fünft auf 65 Quadratmetern", sagt die Mutter von vier Kindern. Es gäbe keinen Platz für einen Schreibtisch, der Hof wurde für die Kinder zum Spielen gesperrt. "Seit Wochen streiten sich die Kinder - ständig. Jede Form von Struktur im Alltag ist weg", schildert sie ihren Alltag. Ammo quält außerdem die Angst, sich anzustecken. "Ich habe riesige Angst vor dem Virus, denn wer soll meine Kinder nehmen?"

Brivian Ammo hatte dieses Jahr an einem Bewerbungskurs des Jobcenters München teilgenommen. Die Kurse sind nun ausgesetzt. Bei ihrem vorherigen Versuch Arbeit zu finden, lehnten sie mehrere Discounter ab. "Ich glaube, die Unternehmen haben Angst, dass ich oft fehlen würde, weil ich Kinder habe - dabei habe ich ein gutes soziales Netzwerk und könnte sehr flexibel arbeiten", sagt Ammo. Der 29-Jährigen fehlt die Abwechslung, wenigstens ein paar Stunden am Tag außerhalb der Wohnung zu arbeiten: "Ich kann langsam nicht mehr". Ammo hofft, dass ihre Kinder bald wieder in Schule gehen können und sie selbst bald Arbeit finden wird. Und noch einen Wunsch hat Ammo für sich und ihre Kinder: "Wenn Corona vorbei ist, wird erst mal mit der Oma gepicknickt." Wann das sein wird, weiß derzeit niemand.

In einer ersten Version des Artikels hieß es, die Dachauer Tafel würde die Familie Ammo nicht versorgen. Dies war richtig zum Zeitpunkt unserer Recherche, in der Zwischenzeit wird die Familie jedoch versorgt. Wir haben dies daher im Text korrigiert.

© SZ vom 05.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusErziehung
:"Persönliche Beziehungen sind unersetzbar"

Julia Doben hilft Familien, die in einer persönlichen Krise stecken. Die Sozialpädagogin über überforderte Eltern, wie man Probleme trotz Kontaktsperre erkennt und wieso gegenseitiger Austausch wichtig ist.

Interview von Anna-Elisa Jakob

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: