Bildung:Gefährliche Ungerechtigkeit

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Fördern, fördern, fördern: Deutsche Schülerinnen und Schüler, hier an Computern. (Foto: imago)

Die Bildungskrise trifft vor allem Kinder aus ärmeren Familien. Das ist nicht nur unfair - Deutschland kann es sich auf die Dauer auch nicht leisten. Drei Vorschläge, was man tun könnte.

Kommentar von Lilith Volkert

Sich vor der ganzen Welt zu blamieren - das kann auch etwas Gutes haben. Vor 20 Jahren kam auf diese Weise die deutsche Bildungspolitik in Schwung. Deutschlands Schüler hatten sich in der ersten Pisa-Studie als Mittelmaß herausgestellt, an der Spitze lag das Land nur in einem Punkt: bei der Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen aus bildungsfernen Elternhäusern. Daraufhin packten Bund und Länder an, um das Land klüger und gerechter zu machen. Nachdem erste Schritte gegriffen hatten, ließ der Reformwille allerdings nach.

Gut zwei Jahrzehnte nach dem Pisa-Schock wäre es wieder an der Zeit, dass Bildungspolitiker sich aufraffen: aus Sorge beim Gedanken an Deutschlands Zukunft; aus Ärger über die vertane Zeit; aus Scham gegenüber den Schülerinnen und Schülern, die unter ihren Versäumnissen leiden. Die Nachrichten gegen Ende dieses Schuljahrs bieten jedenfalls Anlass dazu; Baden-Württemberg und Bayern gehen nun als letzte Bundesländer in die Sommerferien.

Corona hat den Abwärtstrend nur beschleunigt

Eine kürzlich veröffentlichte Studie des Berliner Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) zeigt, dass einem immer größeren Teil von Viertklässlern grundlegende Fähigkeiten fehlen. Jeder fünfte erreicht beim Lesen und Rechnen nicht einmal die Mindeststandards, bei der Rechtschreibung scheitert fast jeder dritte, schreiben die Forscher, die die Länder beraten. Dass diese Kinder auf einer weiterführenden Schule Erfolg haben werden, ist unwahrscheinlich. Nun ist es kein Wunder, dass Grundschüler kaum Fortschritte machen, wenn man sie monatelang zu Hause lernen lässt. Doch die Bildungsforscher betonen, dass die Schulschließungen während der Pandemie nicht allein schuld an den fehlenden Kompetenzen sind. Corona hat den Abwärtstrend nur beschleunigt.

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Besonders abgestürzt sind die Leistungen von Kindern, deren Eltern wenig Geld und wenig Bildung haben. Die Bildungskrise trifft sie mit voller Härte. Das ist nicht nur unfair gegenüber jedem und jeder Einzelnen. Deutschland kann sich dies auf Dauer auch nicht leisten. Wenn ein immer größer werdender Teil der Jugendlichen die Schule verlässt, ohne ausbildungsfähig zu sein, gefährdet das zunächst die Wettbewerbsfähigkeit des Landes, darüber aber bald auch den sozialen Zusammenhalt, die Demokratie. Das zwei Milliarden teure Corona-Aufholprogramm löst das Problem nicht: Das Geld wird zu beliebig eingesetzt, an den Strukturen ändert es ohnehin nichts. Die Schulen müssen benachteiligte Kinder dringend stärker fördern, ohne die anderen deshalb zu vernachlässigen.

Lehrkräfte sollen lehren. Und sonst nichts

Leicht wird das nicht. Schon jetzt gibt es zu wenig Lehrkräfte, bis 2030 werden etwa 30 000 fehlen. Trotzdem lässt sich etwas tun. Drei Vorschläge: Lehrkräfte müssen entlastet, die Ganztagsschule muss mit Hilfe von Seiteneinsteigern ausgebaut werden. Außerdem braucht es eine andere Erwartungshaltung gegenüber den Eltern.

Bisher sollen Lehrer sowohl Unterricht für eine Klasse machen als auch Kinder individuell fördern. Dazu kommen immer mehr zeitfressende Organisations- und Verwaltungsaufgaben: Listen führen, Materialien besorgen, die Schul-IT am Laufen halten. Das aber muss nicht von pädagogischem Personal erledigt werden. Wenn sich Lehrkräfte auf ihr Kerngeschäft konzentrieren, können sie die Schwächeren besser im Blick behalten.

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Auch ein weiterer Ausbau der Ganztagsschule wird Lehrkräfte entlasten und benachteiligten Schülern helfen. Dafür reicht es nicht, Kinder und Jugendliche am Nachmittag einfach nur zu betreuen. Ein multiprofessionelles Team aus Sozialpädagogen, Psychologen und Seiteneinsteigern mit pädagogischer Weiterbildung sollte sie nach dem Unterricht weiter fördern und in ihrer Entwicklung begleiten, mit ihnen Gelerntes wiederholen und auf individuelle Probleme eingehen. Attraktiv ist diese Arbeit allerdings nur, wenn sie angemessen bezahlt und wertgeschätzt wird.

Ohne die Eltern geht bisher wenig

Gute Ganztagsbetreuung dient nicht nur dem Lernen für die Schule. Vor allem Kinder aus weniger privilegierten Familien können hier Erfahrungen sammeln, die sie zu Hause nicht bekommen. Von einer Zusammenarbeit mit Sportvereinen und Musikschulen etwa würden alle profitieren: Schulen, Vereine mit Nachwuchssorgen und die Kinder, die beim Sport oder Musizieren erfahren, wie man sich selbst motiviert, wie man mit Rückschlägen umgeht - wie man lernt.

Schließlich ist das deutsche Schulsystem auch deshalb so ungerecht, weil es ohne Unterstützung der Eltern nicht funktioniert. Sie sollen ihre Kinder motivieren und abfragen, notfalls Nachhilfe organisieren und zahlen. Viele können und machen das. Wer aber wegen fehlender Sprachkenntnisse, Überforderung oder Geldsorgen nicht dazu fähig ist, muss damit leben, dass sein Kind dadurch deutliche Nachteile hat.

Damit all das funktioniert, muss die Politik das Problem ernsthaft angehen und nicht nur auf die Ergebnisse der jeweils nächsten Bildungsstudie schielen. Andernfalls ist in naher Zukunft eine Blamage auf internationaler Bühne das geringste Problem.

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