Das Engagement ist groß, die Erschöpfung auch - so lässt sich die Lage an dem Gymnasium zusammenfassen, das Birgit Adam leitet. Seit drei Monaten lernen ukrainische Jugendliche dort in einer Willkommensklasse zusammen Deutsch, zwei Stunden am Tag verbringen sie mit Gleichaltrigen in Regelklassen. Doch die Lehrerin, die Deutsch als Fremdsprache unterrichtet, spricht kein Russisch und ist mit den Jugendlichen überfordert. Viele nehmen den Unterricht nicht ernst, erzählt die Schulleiterin. "Pubertät, Kriegstraumata und die Unsicherheit, wie lange sie überhaupt in Deutschland bleiben werden - da kommt vieles zusammen", sagt Adam, die wegen möglicher dienstrechtlicher Folgen nicht möchte, dass ihr wirklicher Name in der Zeitung steht.
Im kommenden Schuljahr soll die Gruppe an dem Gymnasium im Münchner Umland als sogenannte Brückenklasse weitergeführt werden. Neben Deutsch stehen dann auch Mathematik und Englisch auf dem Stundenplan. Das wird aber nur funktionieren, wenn Adam bis Mitte September eine neue Lehrkraft findet. Sie hat zum Schuljahresende alle Hände voll zu tun, um die Personalsuche kann sie sich nur nebenbei kümmern. Kurz vor den Sommerferien hat sie noch niemanden in Aussicht. "Ich fühle mich mit dem Problem alleingelassen", sagt Adam.
Um die 150 000 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine haben die Schulen bundesweit bisher aufgenommen. "Im Frühjahr, nach zwei Jahren Pandemie, waren die Schulen schon an der absoluten Belastungsgrenze", sagt Anette Stein, Expertin für Bildungspolitik bei der Bertelsmann-Stiftung. "Trotzdem gab und gibt es eine riesige Hilfsbereitschaft. Es ist enorm, was die Schulen in den letzten Monaten geleistet haben." Stein leitet mit der Robert-Bosch-Stiftung eine gemeinsame Initiative, die bei der Aufnahme ukrainischer Kinder und Jugendlicher unterstützt. Gut läuft es - wenig überraschend - vor allem dort, wo man seit Jahren Erfahrung mit Schülern ohne Deutschkenntnisse hat.
Etwa die Hälfte der ukrainischen Kinder und Jugendlichen besucht eine sogenannte Willkommens- oder Vorbereitungsklasse. In elf Bundesländern sind sie seit 2015 das Mittel der Wahl. Zugezogene sollen dort so gut Deutsch lernen, dass sie eine Regelklasse besuchen können. Bildungsforscher sehen Willkommensklassen allerdings kritisch. Weil es kaum Vorgaben für den Unterricht gibt, schwankt das Niveau stark, außerdem werden die Schüler an ihrer Schule oft als Fremde wahrgenommen. Man lernt und integriert sich schneller, wenn man von Anfang an Teil einer Regelklasse ist - und zusätzlich intensiv in der neuen Sprache gefördert wird.
Bei allem Elan, mit dem die Geflüchteten aufgenommen wurden: Verbessert hat sich die Situation der Pädagogen durch diesen zusätzlichen Kraftakt nicht. Fast zwei Drittel der Lehrkräfte fühlt sich häufig erschöpft, 13 Prozent würden gerne ihre Arbeitszeit reduzieren, zeigte das Deutsche Schulbarometer im Juni. Und die Herausforderung ist noch lange nicht bewältigt. Ging es anfangs hauptsächlich darum, den Geflüchteten eine Tagesstruktur und damit Sicherheit zu bieten, notfalls mit improvisiertem Unterricht, wird es spätestens im neuen Schuljahr ernst mit der Wissensvermittlung.
Außerdem dürften im Herbst noch einmal deutlich mehr Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine an die Schulen kommen. Der Deutsche Lehrerverband rechnet mit insgesamt bis zu 250 000 schulpflichtigen Kindern, die Kultusministerkonferenz (KMK) spricht sogar von 400 000. In den meisten Bundesländern gilt drei bis sechs Monate nach der Anmeldung die Schulpflicht. Und die Behörden werden im Herbst nicht mehr, wie bisher, ein Auge zudrücken, hat Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) angekündigt.
Wie also geht es weiter? Von der "Taskforce Ukraine", die die KMK im März eingesetzt hat, ist seit Längerem nichts mehr zu hören. Die Kultusminister formulierten Ende Juni sehr allgemeine Ziele fürs nächste Schuljahr: Schutzsuchende Schüler sollen mithilfe der "bestehenden länderspezifischen Förderprogramme" ins deutsche Schulsystem integriert werden, ukrainische Online-Materialien können im Regelunterricht ergänzend benutzt werden. "Das ist zu wenig und zu unkonkret, nichts davon bringt die Schulen in dieser Situation weiter", sagt Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE). "Viel wichtiger ist die Frage: Wer soll das machen?"
Schon vor Kriegsbeginn fehlte an allen Ecken und Enden Personal, die Länder werben seit Langem um pensionierte Lehrer und Quereinsteiger. Die Hoffnung, dass ukrainische Lehrkräfte die Lücke zumindest zum Teil schließen könnten, hat sich bisher nicht erfüllt. Obwohl der Zugang erleichtert wurde, liegt deren Zahl in den meisten Bundesländern im niedrigen zweistelligen Bereich. Noch immer sind bürokratische Hürden zu hoch, es fehlen Sprachkenntnisse oder das Wissen, wie Unterricht in Deutschland funktioniert. "Wir müssen dringend pädagogische Fachleute aus der Ukraine weiterqualifizieren und in unser Schulsystem bringen - und zwar innerhalb von Monaten, nicht von Jahren", sagt Anette Stein von der Bertelsmann-Stiftung.
VBE-Chef Beckmann vermisst das Eingeständnis der verantwortlichen Politiker, dass die Integration Tausender geflüchteter Kinder und Jugendlicher auch Folgen für die bisherigen Schüler haben wird, etwa weil Klassen größer werden oder Angebote ausfallen. "Es ist wichtig, dass die Politik das jetzt klar sagt, damit es nicht zu Konflikten mit den Eltern kommt. Bisher ist das Schulleitungen und Lehrkräften überlassen."
Bleibt die heftig diskutierte Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, alle Geflüchteten ins deutsche Schulsystem zu integrieren. Viele Ukrainer wollen so schnell wie möglich zurückkehren und ihre Kinder bis dahin nach dem heimischen Lehrplan unterrichtet wissen. Allerdings bieten immer weniger ukrainische Schulen Distanzunterricht an. Ideal wäre es, die Kinder auch an deutschen Schulen über die digitalen Plattformen der Ukraine weiterlernen zu lassen und sie dabei zu begleiten. Das in der aktuellen Situation für alle zu organisieren, dürfte aber äußerst schwierig sein. Experten warnen jedenfalls davor, jetzt die Integration der jungen Menschen zu vernachlässigen. "Wir müssen davon ausgehen, dass viele Familien länger bleiben, als sie sich das gerade vorstellen können", sagt Anette Stein. "Manche auch für immer."