NS-Prozesse:Alt und angeklagt

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Stutthof-Prozess: Darf die Justiz wirklich eine 96-Jährige vor Gericht stellen? Sie muss es sogar - das ist der Rechtsstaat den NS-Opfern schuldig.

Von Joachim Käppner

75 Jahre nach der Verkündung der Urteile gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg flieht eine 96-jährige frühere Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof vor dem Verfahren gegen sie aus dem Seniorenheim; sie taucht unter, wird von der Polizei gestellt und in Untersuchungshaft gesteckt. Manche fragen sich, ob mit diesem Vorgehen gegen eine Greisin der Gerechtigkeit wirklich gedient ist. "Lasst die KZ-Sekretärin laufen" fordert etwa die Welt.

Aber die Justiz kann nicht nach Gutdünken Angeklagte laufen lassen. Zuletzt hat die bundesdeutsche Justiz das getan, was sie in den ersten Nachkriegsjahrzehnten hätte tun müssen: Nazitäter konsequenter anzuklagen. Früher wurden überwiegend, wenn überhaupt, das Führungspersonal der Lager verurteilt und SS-Leute, die Gefangene ermordet hatten. Nach heutigen Kriterien dagegen ist jemand, der in einer Einrichtung des systematischen Massenmordes diente, der Beihilfe verdächtig. Und da der Gesetzgeber 1979 gerade wegen der Naziverbrechen beschloss, dass Mord nicht verjährt, geht kein Weg daran vorbei, noch verhandlungsfähige Beschuldigte vor Gericht zu stellen - um den Preis, dass es sich um sehr alte Menschen handelt.

Die Schreibmaschine half dem System der Vernichtung

In Stutthof bei Danzig wurden mehr als 65 000 Menschen ermordet, Töten und Terror bildeten den einzigen Zweck eines solchen Ortes des Grauens. Die Schreibmaschine in der Lagerkommandantur war dabei im Zweifel ein Hilfsmittel, auch ein Vernichtungssystem braucht Büropersonal. Natürlich sind übliche Strafzwecke wie Sühne und Abschreckung zwecklos bei fast Hundertjährigen, die vielleicht auch ihre Strafe gar nicht mehr antreten werden. Darauf kommt es auch nicht an - sondern darauf, dass der Rechtsstaat die NS-Zeit nicht ad acta legt. "Moral duties have no terms" hat Simon Wiesenthal gesagt, der einst viele Nazitäter vor Gericht brachte: Gerechtigkeit ist nicht von einem Datum abhängig. Und den Opfern von Stutthof Gerechtigkeit zu verweigern - das hat die deutsche Justiz nach 1949 viel zu lange getan.

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