"In aller Ruhe" mit Carolin Emcke:"Kollektive Verletzung" - Thomas Krüger über die Nachwendejahre in Ostdeutschland

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"Ich bin der Überzeugung, dass wir in einer Demokratie mit pluralen Lebensentwürfen gerade die plurale Interpretation von Grundrechten benötigen und damit Streit als konstitutives Merkmal von Demokratie positiv besetzt werden muss", sagt Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. (Foto: Jordis Antonia Schlösser/bpb/Bearbeitung: SZ)

Wie der Rechtspopulismus die Demokratie gefährdet. Und warum Streit sie am Leben hält. Darüber spricht der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung Thomas Krüger.

Podcast von Carolin Emcke; Text von Johannes Korsche

Die AfD befindet sich seit einigen Monaten im vielzitierten Umfrage-Hoch. Politiker wie Hubert Aiwanger (Freie Wähler) fallen in Wahlkampfreden mit rechtspopulistischen Sprüchen auf, wollen sich "die Demokratie zurückholen" - und erleben ebenfalls hohe Zustimmungswerte in Umfragen. Es scheint, als wäre da etwas ins Rutschen geraten in Deutschland. Hat die politische Bildung in Deutschland versagt? Und ist die deutsche Demokratie robust genug? Darum geht es in dieser Folge von "In aller Ruhe" mit Carolin Emcke.

Zu Gast ist diesmal: Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Krüger, geboren 1959 in Buttstädt (Thüringen), war 1989 eines der Gründungsmitglieder der SPD in der DDR. 1990 bis 1991 war er Erster Stellvertreter des Oberbürgermeisters in Ost-Berlin und Stadtrat für Inneres. Anschließen war er bis 1994 Senator für Jugend und Familie in Berlin. Für die SPD saß Krüger 1994 bis 1998 im Deutschen Bundestag. Seit Juli 2000 ist er Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Die Aufgabe der Bundeszentrale für politische Bildung ist es, Verständnis für politische Sachverhalte zu fördern, das demokratische Bewusstsein zu festigen und die Bereitschaft zur politischen Mitarbeit zu stärken.

"Die Institutionen der Demokratie verlieren ihre Bindungskräfte"

Zwar sei das Erstarken des Rechtspopulismus kein rein ostdeutsches Phänomen, sagt Krüger, aber: "Ich glaube, dass die spezifische Situation in den ostdeutschen Bundesländern sehr stark damit zu tun hat, dass man in den frühen Neunzigerjahren die Demokratie nicht immer als einen positiven Erfahrungsraum rezipiert hat", sagt Krüger. Dreiviertel aller ostdeutschen Menschen hätten in diesen Jahren ihren Job verloren. 80 Prozent hätten ihren Bildungsabschluss, den sie in der DDR bereits erworben hatten, nochmal nachholen müssen. "Das hat viele Leute zutiefst verletzt, und das ist keine nur individuelle Verletzung. Sondern das ist eine Art kollektive Verletzung, die da entstanden ist."

Hinzu komme eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung: "Die sogenannte Mitte-Studie zeigt das seit langer Zeit: Die Institutionen der Demokratie, die Parteien, die Gewerkschaften, die Kirchen verlieren ihre Bindungskräfte." Das führe dazu, dass sich Parteien an den politischen Rändern etablieren können, indem sie Wähler mobilisieren, die früher eine Volkspartei gewählt hätten. "Das führt dazu, dass sich antisemitische, extremistische, rassistische Einstellungen in einer neuen Partei organisieren, die keinen Bogen mehr drumrum macht, sondern die das meint, was sie sagt. Und die Wählerinnen und Wähler tun das auch", sagt Krüger.

"Streit als konstitutives Merkmal von Demokratie"

Zur AfD sagt Krüger: "Es ist nicht eine einzelne Position, sondern es ist ein kultureller Habitus, der sich dort organisiert und der sich vielleicht am besten durch die Distanz gegenüber den herkömmlichen Verfahren der Demokratie, den Parteien, den Parlamenten kennzeichnen lässt." Und das sei nicht nur abhängig von ökonomischen Faktoren oder vom Bildungsstand: "Die AfD-Wählerschaft muss als eine plurale, vielfältige begriffen werden, die in allen sozialen Milieus Verankerung findet." Was diese Menschen laut Krüger eint: "Viele der Anhänger der AfD finden sich bei den Angeboten, die die Demokratie unterbreitet, nicht wieder und haben ein großes Zugehörigkeitsbedürfnis, ein Anerkennungsbedürfnis, ein Wertschätzungsbedürfnis. Und das bekommen sie nicht mehr in der Gesellschaft."

Thomas Krüger spricht sich außerdem für mehr Streit aus: "Ich bin der Überzeugung, dass wir in einer Demokratie mit pluralen Lebensentwürfen gerade die plurale Interpretation von den Grundrechten benötigen und damit Streit als konstitutives Merkmal von Demokratie positiv besetzt werden muss." Allerdings gebe es da ein Problem: "Streit ist etwas, das die Menschen verabscheuen und das sie nicht akzeptieren. Da bedarf es der Reflexion, wie konstitutiv eigentlich Streit ist, um die verschiedenen Lebensentwürfe überhaupt verhandelbar, sagbar, akzeptabel in der Gesellschaft zu organisieren." Dem gegenüber stehe aber leider eine zu große Sympathie für den Konsens in unserer Gesellschaft, so Krüger. "Der Konsens aber macht gerade die unterschiedlichen und strittigen Punkte unsichtbar."

Wie blickt Thomas Krüger auf die Flugblatt-Affäre um Hubert Aiwanger? Was kann die politische Bildung in Deutschland leisten, um die Demokratie zu stärken? Und welche Formate erreichen junge Menschen? Darüber diskutiert er mit Carolin Emcke in dieser Folge von "In aller Ruhe".

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Thomas Krüger empfiehlt: Die "Ursonate" von Kurt Schwitters, "ein für meine Begriffe großes Werk des 20. Jahrhunderts", sagt Krüger. Schwitters komponierte in dem dadaistischem Werk mit Silben als wären sie Töne. "Das hört sich urkomisch an. Und es gehört zu meinen größten Passionen, mit Freunden und Musikerinnen die Sonate vorzutragen."

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