Bundestagswahl:Ende der Beständigkeit

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Die Grünen sind im Aufwind - doch es ist die Frage, ob die Wählerinnen und Wähler Annalena Baerbock oder Robert Habeck auch das Kanzleramt zutrauen. (Foto: Hendrik Schmidt/dpa)

Nach der SPD verliert nun auch die Union Wählerinnen und Wähler. Vom Wandel der Parteienlandschaft profitieren vor allem die Grünen. Doch: Erfolgreich in Umfragen waren sie schon öfter.

Gastkommentar von Matthias Jung

Wenige Wochen haben genügt, um das deutsche Parteiensystem regelrecht zu zerfleddern. Eine ungeahnte Volatilität hat jetzt auch die Bundesebene mit voller Wucht erreicht. Vieles ist plötzlich denkbar geworden - selbst dass die kleinste Oppositionsfraktion, die grüne Partei, plötzlich das Kanzleramt besetzt.

Am deutlichsten sind die Verwerfungen bei CDU und CSU zu beobachten. Hier sind in kurzer Zeit eine Reihe von Faktoren zusammengekommen, die zu einem Absturz der Union in den demoskopischen Stimmungslagen geführt haben. Dieser fällt sogar dramatischer aus als zu Zeiten von Kohls Spendenskandal. Zunächst einmal machen sich hier die Corona-Pandemie und der administrative Umgang mit ihr bemerkbar. Die große Zustimmung, die insbesondere die Bundesregierung bei der ersten Welle erreichen konnte, kehrt sich ins Gegenteil. In der Bevölkerung gibt es unüberwindbare Gegensätze zwischen einer kleinen, aber im Verbund mit den einschlägigen wirtschaftlichen Interessengruppen wirkungsmächtigen Minderheit, die die restriktiven Corona-Maßnahmen übertrieben findet, und einer etwas größeren und wachsenden Minderheit von Bundesbürgern, der das jeweilige Corona-Management nicht streng genug ausfällt.

Seit Monaten aber gibt es eine klare Mehrheit, die im Großen und Ganzen die jeweils geltenden Schutzmaßnahmen mitgetragen hat. Einhergehend mit den sichtbar werdenden Differenzen zwischen Bund und einzelnen Ländern hat die Polarisierung der Bevölkerung in dieser Frage zugenommen, sodass der Rückhalt für vereinbarte Corona-Maßnahmen immer mehr bedroht ist. Letztlich untergräbt dies die Führungsfähigkeit in der Krise und trifft primär die Union, aber auch die auf vielen Ebenen Verantwortung tragende SPD.

Die Maskenaffären können der Union nachhaltig schaden

Diese erkennbare Überforderung der etablierten Strukturen tritt im föderalen System der Bundesrepublik sowie auf europäischer Ebene am Ende von Merkels Regierungszeit auf. Die Kanzlerin konnte bisher mit ihrem untypisch hohen parteiübergreifenden Ansehen vieles ausbügeln, was an Distanz zu den politischen Parteien entstanden war. Auch wenn Merkels Ansehen unter dem Tohuwabohu des Krisenmanagements am wenigsten gelitten hat und sie trotz ihrer nur noch wenige Monate dauernden Regierungszeit kaum als lame duck wahrgenommen wird, reicht das nicht mehr aus, um das immense personelle Defizit der Union auf der Führungsebene zu kaschieren.

Dies alles wäre vielleicht für die Union noch mit moderaten Stimmungsverlusten verkraftbar gewesen, wären nicht gleichzeitig allerorts in CDU und CSU Maskenaffären mit Vorwürfen der Bestechung und des Handaufhaltens bekannt geworden - und das ausgerechnet im Zusammenhang mit der Corona-Krise. Das erschüttert auf kaum wiedergutzumachende Art das Vertrauen in das gesamte politische System, zuvorderst aber das in CDU und CSU. Nur durch diese Vorfälle ist der in den Umfragen erkennbare Absturz der Union erklärbar. Darunter wird die Union noch lange leiden; es stellt das entscheidende Handicap für ein passables Abschneiden bei der Bundestagswahl dar. Je nachdem, wie und mit wem sie die Kanzlerkandidaten-Frage löst und wie sich das weitere Corona-Management entwickelt, kann das die Union nach der Wahl sogar ihren Status als stärkste Kraft im Bundestag kosten.

Den Grünen fliegen Erfolge zu, seit sie sich an der politischen Mitte orientieren

Hauptprofiteure des Erosionsprozesses der Union sind die Grünen, die ohne großes eigenes Zutun und ohne ein die Agenda beherrschendes Grünen-spezifisches Thema ein Zustimmungsniveau erreichen, das weit über ihrem letzten Bundestagswahlergebnis liegt. Dies ist auch der Modernisierung der Gesellschaft geschuldet und der sichtbar stärkeren Orientierung der Grünen an der politischen Mitte, was sich nicht zuletzt in Baden-Württemberg als Erfolgsrezept bewährt hat. Hauptsächlicher Grund für den momentanen Stimmungsaufschwung der Grünen ist aber die Tatsache, dass sie keine wirkliche Konkurrenz durch andere Parteien haben, wenn es um eine Alternative zur Union geht. Die SPD ist weiter in ihrem Selbstverzwergungsprozess gefangen, bei dem jedwede Zuwendung zur immer stärker werdenden politischen Mitte durch die üblichen sozialdemokratischen Traditionskompanien unterbunden wird und erfolgversprechende Kandidaten wie Olaf Scholz maximal beschädigt werden. Die fundamentale Systemopposition AfD wiederum hat sich sichtbar weiter radikalisiert und verschleißt sich in innerparteilichen Grabenkämpfen.

In einem heißen Sommer wird der Klimaschutz zur drängenden Frage

Die Grünen mit ihrem modernen gesellschaftlichen Konzept, mit der Betonung des Umwelt- und Klimaschutzes und einem im Vergleich zu früher zurückgenommenen Moralismus treffen dagegen den Geist der Zeit. Dadurch verfügen sie über ein immenses Wählerpotenzial, das umso größer wird, je mehr sich die Union von Merkels Modernisierungskurs verabschiedet. Sollte bis zur Wahl die Corona-Pandemie an Bedeutung verlieren und gleichzeitig der Sommer wieder sehr heiß werden, wird der Klimaschutz ganz automatisch an Bedeutung gewinnen. Was das für die Stimmungswerte der Grünen heißt, war in der Vergangenheit bereits zu erleben. Dann könnte den Grünen unmittelbar vor der Bundestagswahl die Favoritenrolle zufallen.

Aber gerade das stellt die größte Gefahr für ihren Erfolg dar. Gegen eine starke Juniorpartnerschaft der Grünen in einer Bundesregierung gäbe es in der Wählerschaft kaum Widerstand. Eine Favoritenrolle aber wirft die entscheidende Frage auf: Kann Robert Habeck Kanzler oder Annalena Baerbock Kanzlerin? Traut eine hinreichend große Masse an wechselbereiten Wählern jemandem dieses Amt zu, der oder die noch keine nennenswerte Regierungserfahrung auf nationaler oder internationaler Ebene vorweisen kann? Ist also die Sympathie für die Grünen stark genug, wenn es zum Schwur kommt auf dem langen Weg von der Wahlabsicht in den Umfragen zur Wahlentscheidung auf dem Stimmzettel?

Wenn die Grünen aber an ihrer Favoritenrolle scheitern sollten und die Union keinen überzeugenden Kandidaten präsentieren kann, dann werden wir nach der Wahl nur noch zwei mittelgroße Parteien sowie einige größere, aber trotzdem kleine Parteien haben. Die Mehrheitsbildung wäre extrem erschwert, Instabilitäten wären nicht auszuschließen. Und das in einem Land, das Kanzler gerne länger als eine Legislaturperiode behält.

Matthias Jung, Diplom-Volkswirt, ist Vorstand bei der Forschungsgruppe Wahlen in Mannheim.

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