Europa und die Wahl:Die Welt hinter der Wahlurne

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Olaf Scholz trifft in Paris den französischen Präsidenten Emmanuel Macron - aber wie es weitergehen soll in Europa, ist in Deutschland kaum Thema. (Foto: Thomas Imo/photothek.net via www.imago-images.de/imago images/photothek)

In Deutschland wird gewahlkämpft, als gäbe es kein Europa. Dabei sind die großen Probleme des Landes vor allem auch Probleme des Kontinents.

Kommentar von Stefan Kornelius

Während Ursula von der Leyen ihre Rede zur Lage Europas hält, scheint im deutschen Wahlkampf eine späte Erkenntnis zu reifen: Es gibt eine Welt außerhalb der eigenen Landesgrenze. Besser spät als nie, könnte man also dankbar sagen, wenn es nicht so frustrierend wäre. Europa schaut seit Monaten gebannt auf Deutschland, aber Deutschland schaut nicht auf Europa. Wenn überhaupt die viel zitierte Schicksalsgemeinschaft ihren Auftritt hat, dann eingebettet in Satzphrasen wie "mehr Europa" oder "mehr Eigenständigkeit wagen".

Das ist zu wenig und zu unernst, gemessen an der Bedeutung, die Europa und die Außenpolitik für Deutschlands Wohlergehen hat - und umgekehrt.

In den Merkel-Jahren hat Deutschland an Bedeutung gewonnen

Denn es ist unbestritten, dass die Bundesrepublik in den Merkel-Jahren einen Bedeutungs- und Machtzuwachs erlebt hat. Gemessen daran befassen sich die Deutschen und ihre Politiker freilich viel zu wenig mit Europa und der Welt. "Merkel macht schon", war die Devise der vergangenen Jahre, was allenthalben der apathischen Grundstimmung entsprach. 83 Prozent aller EU-Bürger stimmen laut einer Umfrage des Pew-Instituts dem Satz zu, dass "Merkel das Richtige in der Weltpolitik" tue.

Was aber wird "richtig" sein in den Jahren nach Merkel, wer kann diese Schuhe füllen, und wird im sich abzeichnenden Machtvakuum zunächst ein Verteilungskampf entbrennen?

Der kompromissgetriebene und balancierende Stil Merkels ist ein Grund für die hohe Glaubwürdigkeit, die Deutschland in der Welt genießt. Wer vermittelt, eckt weniger an. Allerdings hat diese Welt auch festgestellt, dass der Merkelismus mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht fortgesetzt werden wird. Zweitens bleibt die beständige Wiederholung der Forderung aller Freunde und Verbündeten, dass dieses Deutschland "mehr tun" solle - wobei nicht nur eine beeindruckende Hilfszahlung an das Taliban-Afghanistan in Höhe von 100 Millionen Euro gemeint sein kann, sondern auch die militärische Führung beim Schutz eines Flughafens oder der Drohnenangriff auf eine Terrormiliz. Übersetzung: Mehr anecken, bitte.

Vertrauen wird erst dann verstanden, wenn es verspielt ist

Es geht also um das große Wort vom Vertrauen in das Europa-Land Deutschland und die Frage, wie es in der nächsten Dekade erwirtschaftet wird. Vertrauen ist ein so blutleerer wie gewaltiger Begriff in der Staatenwelt. Vertrauen wird erst dann in seiner Bedeutung verstanden, wenn es verspielt ist - alles Weitere nachzulesen unter Trump, Donald.

Umso ärgerlicher ist es, dass in diesem Wahlkampf kaum über die großen Entscheidungen gesprochen wurde, die ohne Europa nicht zustande kommen, selbst wenn nach dem 26. September eine einzige Partei mit absoluter Mehrheit regieren könnte. Es geht also um die Kompatibilität der Wahlprogramme mit der europäischen Wirklichkeit - ein Thema, behandelt wie eine Geheimwissenschaft.

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Da steht ganz oben die Klimaneutralität, die vor allem ein europäisches Problem ist, wenn nicht ein globales. Wer der deutschen Autoindustrie bis 2030 ihre Verbrenner nimmt, der nimmt ihr auch ihre Absatzmärkte, wenn nicht zumindest in Europa Elektromobilität in allen Facetten von Ladestationen bis Datenstabilität garantiert ist. Wer die deutschen Kohlekraftwerke schneller vom Netz nimmt, braucht schneller Ersatz - oder er zahlt für französischen Atomstrom. Wer in Deutschland den CO₂-Preis anhebt, ohne für vergleichbare Produktionsbedingungen jenseits der Grenze (und weit darüber hinaus) zu sorgen, treibt Arbeitsplätze aus dem Land. Wer europäische Volkswirtschaften (wie die spanische) bei dieser Energiewende nicht mitnimmt (und subventioniert), der schafft sich nicht nur politische Gegner, sondern treibt Europa in die nächste Wirtschaftskrise.

Dem Wahlkampf fehlt eine Debatte zu sicherheitspolitischen Themen

So wie Deutschland von Europa viel erwartet, so muss sich die nächste Bundesregierung auch einem gewaltigen Erwartungsdruck stellen. Ganz oben steht neben dem Energieumbau die Wirtschaftsordnung und die Finanzverfassung der EU. Mit dem Wiederaufbaufonds wurde ein Präjudiz geschaffen für noch mehr Steuerungsmacht der Kommission und die gemeinsame Verantwortung (und Haftung) aller Staaten. Das hat Hoffnung (in Frankreich oder Italien) und Sorgen (in den Niederlanden) geweckt, die sowohl den Europa-Freund Armin Laschet wie auch den Aufbaufonds-Erfinder Olaf Scholz in die Bredouille bringen werden.

Vollends fehlt dem deutschen Wahlkampf eine Debatte zu den schwierigen sicherheitspolitischen Themen wie Rüstung, Bewaffnung und Einsatz der Bundeswehr. Fast muss man der Linkspartei dankbar sein, dass sie die nukleare Teilhabe und elementare Konzepte wie nukleare Abschreckung oder die Bündnisse in Frage stellt. Die vornehme Zurückhaltung der Mitte-Parteien bei diesen Themen ist jedenfalls nicht der Tatsache geschuldet, dass hier ein großer gesellschaftlicher Konsens herrscht.

Wenigstens eine Botschaft wäre also wichtig für den 26. September: dass hier nicht nur der Bundestag und damit eine Bundesregierung gewählt wird, sondern auch eine Regierung im Dienste Europas.

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