Joe Biden:Sentimental

Der Präsident beschwört die Einheit der Nation - und sagt dabei nicht die ganze Wahrheit über sein Land.

Von Hubert Wetzel

Ein Jahr nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie in den USA hat Joe Biden eine ausgezeichnete Rede gehalten. Empathisch und optimistisch, rührend, aber ohne Schwulst. Er hat der Toten gedacht und dem Land erklärt, wie er das Virus zu besiegen gedenkt. Und er hat nicht gelogen. Allein das unterschied seine Rede von allen, die Donald Trump je gehalten hat.

Die Rede war aber auch wegen des Bildes von Amerika bemerkenswert, das Joe Biden zeichnete. Der Präsident erinnerte seine Bürger an die Zeit des Zweiten Weltkriegs, als alle im Land zusammenstanden, um einen gemeinsamen Feind zu besiegen. Er beschwor ein geeintes Volk, das sich nicht unterkriegen lässt, das alle Härten teilt und aus der schweren Prüfung stärker hervorgeht. Man könnte das idealistisch und patriotisch nennen. Oder sentimental und überholt.

Denn das Amerika, von dem Biden redete, gibt es nicht mehr. Wenn die Pandemie eins gezeigt hat, dann wie gespalten die Gesellschaft der USA ist, in politischer und ideologischer Hinsicht, vor allem aber in sozialer und wirtschaftlicher. Für jeden Amerikaner, dessen Job das Virus vernichtet hat, gibt es einen, der sich über sein im Wert gestiegenes Haus oder Aktienpaket freut. Für jede Privatschule, in der die Kinder der Reichen persönlich unterrichtet werden, gibt es Dutzende öffentliche Schulen, die immer noch geschlossen sind. Die Pandemie hat alle Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in den USA verstärkt. Daran kann das Land zerbrechen. Das zu sagen, hätte auch zur Wahrheit gehört.

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