"Polizeiruf 110" aus München:"Ist die Wut eigentlich echt?"

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Wagen sich vor in eine Kampfzone an der Uni: Johanna Wokalek als Kommissarin Cris Blohm, Stephan Zinner als Kommissar Dennis Eden und Bless Amada als Kommissar Otto Ikwuakwu. (Foto: ariane Krampe/picture alliance/dpa/BR)

Mehr Satire als Krimi: Im neuen "Polizeiruf" mit Johanna Wokalek geht es ums Verstehen. Wenn auch mit besonderem Humor, ist der Fall fordernd und überraschend.

Von Holger Gertz

Schon das Intro dieses Polizeirufs fasst zusammen, worum es im Wesentlichen geht. Die neue Kommissarin Cris Blohm (Johanna Wokalek) fährt mit der U-Bahn zum Dienst, mit ihr im Abteil sitzen die Frau mit Kopftuch, der volltätowierte Langhaartyp, die asiatischstämmige Punkerin, der hagere Lederhosenbayer, die trans Person, das Gen-Z-Mädchen. Alle mit dem Smartphone beschäftigt, alle am Ende in die Kamera schauend, aber keiner mit einem anderen im Gespräch. Die moderne Gesellschaft in all ihrer Diversität und Sprachlosigkeit ruckelt von hier nach da, die Kommissarin muss dann raus, Station Haderner Stern.

Der frühere ZDF-Fernsehspiel-Chef Hans Janke hat vor Jahren gesagt, dass die Wirkung von Kommunikation überschätzt wird: "Man redet, weil man sich versteht, und nicht, damit man sich versteht." Dieser wahre Satz bestätigt sich inzwischen jeden Tag, alle sind untergebracht in separaten "Little Boxes" (so heißt diese Episode). Und sogar die sogenannten Superwoken, die eigentlich eine gerechtere Welt schaffen wollen, erschweren mit ihrer Unversöhnlichkeit die Kommunikation. In der Geschichte von Regisseur Dror Zahavi und Autor Stefan Weigl geht es also um einen Mitarbeiter eines Instituts für Postcolonial Studies, der Mann ist tot, auf seinen Rücken hat jemand "Rapist" geschrieben. Aber ist er wirklich ein Vergewaltiger? Die zugewandte, sympathische Kommissarin Blohm ermittelt mit den Kollegen Dennis Eden (Herkunft: Bayern) und Otto Ikwuakwu (Herkunft: Nigeria) in universitären Kreisen und wagt sich also vor in eine Kampfzone, die nur derjenige überblickt, der die entsprechenden Begriffe dechiffrieren kann: Intersexualität, Identitätspolitik, antidiskriminierende Sprachhandlungen, interdependente Machtverhältnisse, Klassismus. Ein falsches Wort, eine unglückliche Geste - schon hat man Grenzen verletzt und ist raus. Als Polizist sowieso: "Jeder, der nicht der weißen heteronormativen Mehrheitsgesellschaft entspricht, macht schlechte Erfahrungen mit der Polizei", sagt eine Dozentin, die - ganz bewusst - so überzeichnet ist wie das gesamte Institutspersonal.

Wenn Menschen schon keine Sprache mehr füreinander finden, finden die Kommissare ein Lied füreinander

Irgendwann fragt die Polizeipräsidentin die neue Kommissarin: "Wie kommen Sie mit Herrn Ikwuakwu zurecht?" Darauf die Kommissarin: "Gut. Ich mag Menschen, die keinen Humor haben."

"Little Boxes" ist mehr Satire als Krimi. Dieser Polizeiruf will mit Ironie die Verkrustungen des Diskurses lockern. Und wenn Menschen da draußen schon keine Sprache mehr füreinander finden, finden die Kommissare im Präsidium immer wieder mal ein Lied füreinander.

Nicht alles geht auf in diesem sehenswerten Polizeiruf, dessen Humor nicht jedem etwas sagen wird. Aber er ist fordernd und überraschend, das Team ist immer bestens miteinander im Gespräch. Und Autor Weigl hat seinen Schauspielern einige Sätze aufgeschrieben, mit denen man in den verhärteten Debatten der Gegenwart tatsächlich weiterkommt. Einmal sagt Kommissarin Blohm zu einer aufgebrachten Frau: "Ist die Wut eigentlich echt? Oder geht es nur darum, dass ich das Gefühl habe, dass Sie recht haben, weil Sie so wütend sind?" Ziemlich auf den Punkt.

Polizeiruf 110: Little Boxes, Das Erste, Sonntag, 20.15 Uhr.

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