Olympia-Kolumne "Geschlossene Gesellschaft":Der perfekte Flug

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Illustration: Luis Murschetz (Foto: Illustration: Luis Murschetz)

Olympia war immer ein Ort, an dem Menschen übers Ziel hinaus schossen. Diesmal ist das anders.

Von Holger Gertz

Bei Olympia tritt im ZDF regelmäßig Toni Innauer ins Bild, die Zuschauer kennen ihn, ein hagerer Mann mit Wollmütze. Angeblich Skisprung-Experte. Tatsächlich Menschen-Experte. Und auch, wenn diese Spiele (eine Farce!) so eine bittere Veranstaltung sind, sind die Begegnungen mit Toni Innauer im TV oft ein Gewinn. Der Mensch kann nicht fliegen. Aber in der Person Innauer ist er kurz davor, es zu können.

Jedenfalls kriegt die Luft Sprossen, wenn Innauer, der Schanzenphilosoph, über die Luft redet und über die einzelnen Skispringer und Skispringerinnen, die er, wenn er nur ihren Schattenriss beim Absprung sähe, voneinander unterscheiden könnte. Über die Springerin Sara Takanashi sagte er: "Für sie ist die Normalschanze, im Verhältnis, in der Relation, ja eine Großschanze." So ein Skisprung-Experte ist auch Menschen-Experte, weil jeder Mensch auch Skispringer ist. Wer kennt das nicht, dass die Normalschanze am Montag, am Mittwoch, am Freitag im Büro zur Großschanze wird. Und dass das Flugsystem hakt, was es immer tut. Auch am Dienstag und am Donnerstag.

"Mir gelang ein Sprung, der so perfekt war, dass ich ihn zerstören musste, um ihn zu überleben": Toni Innauer über seinen perfekten Flug 1976. (Foto: imago/GEPA pictures)

Innauer, früher selbst Springer, war in den Siebzigern sicher der größte Stilist. 1976 gelang ihm der perfekte Flug. Er spürte die Schwerkraft nicht mehr. Er flog. Aber er fühlte, dass er runtermusste, um nicht zu weit rauszufliegen. Er drückte die Arme wie Landeklappen in den Fahrtwind und landete trotzdem erst bei 174 Metern. Weltrekord. Er hat in seiner Biografie geschrieben: "Mir gelang ein Sprung, der so perfekt war, dass ich ihn zerstören musste, um ihn zu überleben." Was für ein Satz. Es lohnt sich, das nachzulesen, was Innauer sagt: "Der Spitzensport ist faszinierend. Die Faszination besteht in seiner Überschaubarkeit. Die Überschaubarkeit wird von den Spielregeln garantiert, die den Spitzensport zu einem Modell machen, wie man sich die Welt manchmal wünschte."

Wie soll man abheben, wenn alles reguliert ist, wie in Peking?

Aber wenn, wie gerade vor Ort in Zhangjiakou, Skispringer und Skispringerinnen nicht wissen, warum sie disqualifiziert worden sind; wenn Olympiasportler vorab nicht wissen, wie ihr Quarantänelager aussehen wird; wenn sie darüber im Unklaren gelassen werden, was sie sagen dürfen, auch über Zustände jenseits der Arena: Dann geht dem Spitzensport Entscheidendes verloren, seine Überschaubarkeit. Auch dafür steht Peking 2022.

Toni Innauer ist bei den Spielen in Peking, und er ist ein Beispiel dafür, dass der Spitzensport als solcher nicht ist, wie diese sogenannten Spiele sind. Der Sport bringt besondere Momente hervor, manchmal. Und, manchmal auch Menschen, von denen man lernen kann. Am Wochenende ist Toni Innauer, der immer im Fernsehen ist, wenn Menschen fliegen, wieder fürs ZDF im Fernsehen, wenn Menschen fliegen. Diesmal von der Großschanze.

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