Eine Fernsehserie läuft, und hinterher sehen die Leute mit anderen Augen. Geschichtsbücher, die noch kurz zuvor in Regalen verstaubten, verkaufen sich auf einmal, Gedenkstätten sind gut besucht, Diskussions- und Laienforschungsgruppen gründen sich. Die öffentliche Meinung schwingt um, die Serie wird als Argument in Bundestagsdebatten herangezogen, und schließlich ist ihr Titel Wort des Jahres 1979. Ein Wort, von dem man als Spätergeborener fälschlicherweise annimmt, es sei schon viel länger Teil des allgemeinen Sprachgebrauchs: Holocaust.
Dabei wollten die ARD-Fernsehchefs die Geschichte über die jüdische Familie Weiss erst gar nicht zeigen. Schauen wollte sie vorher angeblich auch niemand: Für linke Intellektuelle war sie kommerzieller Kitsch, Historiker sahen ihre Forschung in einer angeblichen Seifenoper trivialisiert, Neonazis versuchten, die Ausstrahlung im letzten Moment mit Sprengstoffanschlägen auf Sendemasten zu stoppen. Andere arbeiteten sich an nebensächlichen Details ab, laut Süddeutscher Zeitung vom Sendetag, dem 22. Januar 1979, störte sich etwa der damalige SWR-Fernsehspielchef Peter Schulze-Rohr öffentlich daran, dass in der Serie ein Hitlerjunge zu Weihnachten die Sommeruniform trägt. Nie war Fernsehen so umstritten. Als aber nach Ausstrahlung die Telefone der anschließenden Zuschauerdiskussion klingelten, waren viele gezwungen, ihre Annahmen zu überdenken.
Weltkriegsfotografie:Eine Mahnung, nicht zu vergessen
Als eine der ersten dokumentierte Lee Miller das besiegte "Krautland" 1945. Ihre Bilder sind teils schwer zu ertragen - aber genau deshalb so wichtig.
Heute holen WDR, NDR und SWR die Serie wieder aus dem Archiv. Holocaust, von NBC in den USA bereits im April 1978 ausgestrahlt, ist nun selbst Geschichte, ein TV-Ereignis aus einer längst vergangenen Medienwelt. In der ersten Szene von Holocaust feiert die jüdische Arztfamilie Weiss die Hochzeit ihres Sohns mit einer Christin. Die Schikanen unter den Nazis nehmen zu, schließlich werden die Familienmitglieder deportiert und erleben getrennt fast jedes größere Ereignis des Holocausts, nur einer überlebt die Mordmaschine. Der WDR spendiert der Serie zur Erklärung eine kurze Dokumentation.
Der Kölner Sender setzte einst mit seinem damaligen Fernsehspiel-Chef, dem Produzenten Günter Rohrbach, Kauf und Ausstrahlung der Serie gegen die massive Ablehnung aus anderen ARD-Anstalten durch. Die Doku von Alice Agneskirchner nimmt sich etwa eine Viertelstunde Zeit für die Vorgeschichte, den internen Gegenwind thematisiert sie nicht größer. Weitere 15 Minuten sind für die Erlebnisse der Macher reserviert: Schauspieler treffen sich nach Jahrzehnten wieder und erzählen unter anderem vom emotionalen Dreh in der echten Gaskammer von Mauthausen. Das letzte Drittel handelt von den Reaktionen, die zahlreicher und so ganz anders als von so vielen vorhergesagt waren.
Der Clou von "Holocaust" war ein Perspektivwechsel
Denn die Serie löste eine Schockwelle aus. Die meisten Deutschen hatten natürlich in den mehr als 30 Jahren seit Kriegsende etwas über den Massenmord an den europäischen Juden gelernt, es mangelte jedenfalls nicht an Material darüber. Aber viele hatten den Holocaust emotional nicht begriffen. Erst jetzt erahnten sie das Leid, zumindest ein bisschen. Der Clou von Holocaust war ein Perspektivwechsel: Die deutsche Geschichtsschreibung hatte sich zuvor vor allem mit den Tätern befasst, der Massenmord an den Juden galt als ein Teil der Kriegsgeschichte von vielen. In der Serie aber war der Holocaust nun für eine breite Masse erstmals aus Sicht einer jüdischen Familie zu sehen - oder besser: mitzufühlen. Die Macher um Produzent Robert Berger, Regisseur Marvin J. Chomsky und Drehbuchautor Gerald Green ließen diese Familie Weiss bürgerlich urbane, assimilierte Juden sein. Die Figuren sahen wie die Leute aus, die vor dem Fernseher saßen, sie beteten nur etwas anders, in einzelnen Szenen.
Das Ergebnis war eindeutig: Kistenweise gingen Zuschauerbriefe ein, die meisten positiv. Mehr als 23 000 Menschen riefen in den anschließenden Diskussionssendungen an und sie stellten Fragen, von denen man vorher angenommen hatte, sie seien allgemeines Schulwissen. Selbst Historiker mussten eingestehen, dass ihre Arbeit zu wenige Menschen erreichte. Widerwillig öffneten sie sich der Einsicht, dass die meisten Menschen so gebaut sind, dass ihre Gehirne Fakten allzu schnell wieder vergessen, wenn nicht Emotionen sie dort verankern.
In einer kleinen Auswahl der unzähligen Briefe, die das WDR-Archiv zur Verfügung stellt, befürchten Zuschauer, dass durch die Ausstrahlung in den dafür an fünf aufeinanderfolgenden Tagen zusammengeschalteten Dritten Programmen der ARD zu wenige Holocaust gesehen hätten. Tatsächlich sahen 20 Millionen zu, fast die Hälfte der über 14-Jährigen, zumindest bei der ersten Folge. Heutzutage mit deutlich mehr als drei Programmen übertreffen nur die wichtigsten Fußballspiele diesen Wert. Die negativen Zuschriften belegen, wie sehr rechtsradikale und antisemitische Einstellungen auch unter normalen Leuten verbreitet waren. Eine Frau berichtet etwa vom Hörensagen, amerikanische Juden hätten die Deutschen gezwungen, Holocaust auszustrahlen, und fügt naiv hinzu: "Stimmt das?" Sie habe übrigens nichts gegen Juden. Ein Mann tippt empört in seine Schreibmaschine, dass die in Holocaust dargestellte Grausamkeit hierzulande noch nicht einmal hätte erfunden worden sein können: "Dazu sind Deutsche in ihrer Einfalt nicht fähig." Er wisse, dass sein Schreiben keinen Zweck habe, "da Deutschlands Untergang beschlossene Sache unserer Feinde ist". Damals brachten Leute solche wirren Bekenntnisse noch frankiert zum Briefkasten, statt sie im Affekt ins Internet zu spucken.
Lehnte vor der Serie noch eine Mehrheit das Vorhaben ab, Mord nicht verjähren zu lassen, war das hinterher anders, und so wurde es schließlich auch Gesetz. Eine breite Masse lernte, Mitleid mit den jüdischen Opfern zu haben. Man mag einwenden, dass das heute zu wenig ist, vor allem wenn die Empathie vornehmlich toten Juden gilt, aber nicht unbedingt lebenden, damals aber war selbst das neu. Vierzig Jahre nach der Erstausstrahlung sieht man Holocaust vor dem Hintergrund wieder, dass die Erinnerung erneut stärker umkämpft ist und AfD-Chef Alexander Gauland die NS-Zeit als lediglich einen "Vogelschiss" in der deutschen Geschichte abtut. Kommen die Verharmloser damit durch, weil die Masse die Fakten vergessen hat oder weil der emotionale Anker gerissen ist? Oder fehlen öffentliche Diskussionen wie die anlässlich dieser Serie?
Die Techniken der Emotionalisierung sind heute raffinierter
Die legitime Kritik, das Grauen des Holocausts sei mittels Unterhaltung nicht wirklich darstellbar, ist heute Randnotiz. Einige der größten deutschen Fernsehfilm- und Serienproduktionen der letzten Jahre, darunter Babylon Berlin, Das Boot oder Ku'damm, nutzen die Zeit vor, während oder nach dem Zweiten Weltkrieg wie selbstverständlich als Material. Vielleicht tragen die Hitlerjungen jetzt der Jahreszeit entsprechende Uniformen, doch vieles, was bei der US-Serie damals skandalös erschien, haben sich deutsche Produktionen angeeignet. Die Techniken der Emotionalisierung sind heute raffinierter. Deutsches Geschichtsfernsehen ist längst selbst Exportschlager, und im Ausland löst es mitunter heftigere Kritik aus als zu Hause, wie etwa Unsere Mütter, unsere Väter in Polen.
Eine nicht in Deutschland entstandene Serie über deutsche Geschichte aber hatte seit Holocaust hierzulande nie wieder so viel Aufmerksamkeit - und so große Wirkung.
WDR Fernsehen: Holocaust - Teil 1 , 7. Jan., 22.00 Uhr, Holocaust - Teil 2 ; 8. Jan., 22.10 Uhr; Dokumentation Wie 'Holocaust' ins Fernsehen kam , 14. Jan. 22.10 Uhr; Holocaust - Teil 3 , 22.55 Uhr; Holocaust - Teil 4 , 15. Januar. 22.10 Uhr. NDR Fernsehen: Holocaust - Teil 1 ; 7. Jan., 22.00 Uhr; Holocaust - Teile 2, 3 und 4 ; am 14., 21. und 28. Jan., jeweils um 23.15 Uhr; Wie 'Holocaust' ins Fernsehen kam , 16. Jan., 23.45 Uhr. SWR Fernsehen: Holocaust, vier Teile am 9., 16., 23. und 30. Jan. jeweils um 22 Uhr; Wie 'Holocaust' ins Fernsehen kam , 16. Jan., 23.35 Uhr.