Eurovision Song Contest:Pomp lass nach

Eurovision Song Contest 2019 - Green Room

Bekannt durch eine Castingshow: Der Niederländer Duncan Laurence ist ausgebildeter Sänger. In Wettbüros stand sein ESC-Sieg längst fest.

(Foto: Getty Images)

Deutschland schmiert ab, Madonna setzt ihrer Karriere einen Tiefpunkt - und der niederländische Sieger Duncan Laurence zeigt, wie schön der Gesangswettbewerb eigentlich sein könnte.

Von Hans Hoff

Es gibt bei diesem internationalen Trällerwettbewerb ein sonderbares Phänomen. Menschen, die beruflich mit dem Eurovision Song Contest (ESC) befasst sind und sich den 41 Beiträgen in den Vorwochen vielfach aussetzen müssen, merken gegen Ende, dass sie etliche der Lieder, denen sie ob ihrer offensichtlichen Billigkeit am Anfang skeptisch gegenüberstanden, auf einmal mitsummen, im schlimmsten Fall sogar den Text auswendig können. Wie Tinnitus-Geplagte, nur dass ESC sehr sicher schnell wieder vorbeigeht. Also erwacht so mancher Kritiker am Morgen nach dem Finale übernächtigt und pfeift den deutschen Beitrag vor sich hin, obwohl "Sister" vom zusammengecasteten Duo S!sters wirklich schwer zu mögen ist und er die Platzierung als Drittletzter Song im Feld der 26 Finalteilnehmer, mit null Punkten aus der Publikumsabstimmung, völlig fair bewertet findet.

Nur ein Mann und sein Liebeskummerlied

Ungelenke Melodie, holprig bemühter Text. ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber kündigte am Sonntag an, für die nächste Runde im Jahr 2020 "werden wir den Weg, auf dem Deutschland sein Lied und seine Künstler sucht, überdenken" - wieder einmal. Man kann fast Mitleid haben mit der deutschen ESC-Abteilung, die seit 2013 nur noch krachende Misserfolge einfährt und lediglich im Jahr 2018 mal kurz Freude empfinden durfte, als Lockenkopf Michael Schulte in Lissabon Platz vier herbeisang. Diesmal mussten die deutschen Fans und Teilnehmer auch noch mit ansehen, wie die Niederlande ihnen das mit dem Siegen vormachten.

Duncan Laurence, der vorab als Favorit gehandelt worden war, hat den ESC in der Nacht zum Sonntag verdient gewonnen mit einem eher leisen, einem unspektakulären Song, der sich vielem verweigerte, was beim Wettbewerb der Nationen eigentlich als unabdingbar gilt. Er sang in seiner Ballade Arcade von der Sehnsucht nach einer verlorenen Liebe. Kein stroboskopisches Lichtspektakel, kein Outfit wie aus dem Kostümverleih. Ein Mann, ein Klavier, und ruhiger, konzentrierter Gesang. "Here's to dreaming big, this is to music first, always", sagte der 25-Jährige in die Mikrofone, als er weit nach Mitternacht die Siegertrophäe übernehmen durfte.

Duncan Laurence hatte vor fünf Jahren an der Castingshow The Voice of Holland teilgenommen und das Halbfinale erreicht. Die Sendung dürfte ihn gut auf seinen Siegerauftritt vorbereitet haben: Er wurde darin von Sängerin Ilse de Lange als Coach betreut. Als Teil des Duos Common Linnets hatte sie beim ESC 2014 den zweiten Platz hinter Conchita Wurst errungen und war mit dem Titel "Calm After The Storm" im Anschluss weit öfter im Radio gespielt worden als der damalige Siegertitel. Duncan Laurence ist ausgebildeter Songwriter, Sänger und Musikproduzent. Nachdem sein ESC-Song im März präsentiert worden war, hatte er die Listen in den Wettbüros als Top-Favorit angeführt. Nach seinem Sieg nun sagte er in der Nacht zum Sonntag, er habe sich wie ein "Kleinstadtjunge in einer Spielhalle" gefühlt, als das Konfetti auf ihn herabregnete.

Ein Auftritt wie eine Bankrotterklärung

Der Song und der Vortrag des in Südholland aufgewachsenen Laurence hatten viel gemeinsam mit dem, was Michael Schultes Lied "You Let Me Walk Alone" im Vorjahr nach vorne gebracht hatte: Beide Lieder handeln von Verlust, sind leise und verzichten auf übermäßig Kitsch und Pathos. Sie heben sich damit deutlich ab vom Rest des ESC-Angebots, wo diesmal mehr denn je die Hoffnung galt, viel helfe viel. Licht, Kostüme, Schminke und Kniffe zum Spannungsaufbau, alles war wieder einmal im Übermaß vorhanden. Letzteres hatte in diesem Jahr zur Folge, dass sich Zuschauer und Teilnehmer weit nach Mitternacht hinters Licht geführt fühlen konnten.

Die Ausrichter gaben die Punkte in einer Reihenfolge bekannt, deren Sinnhaftigkeit dem Publikum nicht ausreichend erklärt wurde. So rangierte der schwedische Beitrag (der letztlich auf Rang sechs landete) vor der Bekanntgabe des letzten Zuschauerergebnisses noch auf hoffnungsvoller Position, und alles sah bis zur letzten Minute nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den Niederlanden und Schweden aus. Das gab es allerdings zu keiner Minute, und die Auszähler wussten das auch schon lange vor dieser letzten Bekanntgaberunde. Statt dieser künstlich in die Länge konstruierten Spannung hätte Transparenz dem Wettbewerb zu mehr Glaubwürdigkeit verholfen. Auf den Plätzen zwei und drei landeten schließlich Italien und Russland, vor der Schweiz und Norwegen.

Was die Musik angeht, blieb man der ESC-Tradition treu, dass sie zwar aus der Konserve kommt, der Gesang aber immer live präsentiert werden muss. Der Rückgriff auf branchenübliche Computertricks, mit denen Künstler auf der Bühne gerne einmal schiefe Töne geraderücken lassen, ist ausdrücklich nicht erlaubt. Und das darf nach wie vor als große Qualität des ESC gewertet werden. Einer Künstlerin aber wurde genau das in diesem Jahr zum Verhängnis.

Madonnas Auftritt war der Tiefpunkt ihrer Karriere

Die Pop-Ikone Madonna sang live, angereist mit einer Entourage von mehr als 120 Begleitern, um auf der Bühne ihr neues Album zu promoten. Und man kann sagen: Sie setzte ihrer Karriere damit einen Tiefpunkt. Ihre Show begann mit einer Version des 30 Jahre alten "Like A Prayer" im gregorianischen Stil mit Mönchsgesang. Dünne Stimme, schiefe Töne, wackelig auf der Showtreppe, tapsiger Tanz. Die meisten der gut acht Millionen Menschen, die in Deutschland beim 251 Minuten langen Finale zusahen, dürften mit Bestürzung festgestellt haben, dass der Auftritt deutlich nach Bankrotterklärung klang. Höchstwahrscheinlich wird der ESC 2019 damit in Erinnerung bleiben. Und vielleicht wird der gefallene Superstar die Mängel überdecken, die sich eingeschlichen haben beim Versuch der Veranstaltung, immer größer, opulenter, spektakulärer zu werden. Wer immer größer werden will und besinnungslos mehr will, läuft Gefahr, unbeweglich zu werden. In der Hinsicht steht der ESC nun an einem Wendepunkt. Die Veranstalter müssen sich überlegen, ob er weiter zulegen soll oder ob nicht weniger reicht. Der Gewinner Duncan Laurence ist ein schönes Beispiel dafür, dass eine Fastenkur zur kreativen Gesundung beitragen kann.

Zur SZ-Startseite
People gather at the fan zone near the beach at the eve of the 2019 Eurovision song contest final in Tel Aviv

Eurovision Song Contest in Israel
:Party, Politik und Polizei

Schon zwei Kilometer vor dem Eingang standen Bewaffnete, und die Isländer schwenkten "Palästina"-Bänder: Dieser ESC war politisch, auch Madonna setzte ein unabgesprochenes Statement.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: