In Anne Wills Talksendung am Mittwochabend lässt sich eine seltene Spezies besichtigen: ein besorgter Bürger. Und zwar ein echter. Besorgt im eigentlichen Sinne und nicht im Pegida-Sinne. Für deren Mitläufer ist "besorgt" wohl eher ein Code für "wütend". Auf Ausländer, auf Muslime, auf irgendwas.
Jan Greve, der zum Thema "Bürgerproteste gegen die Flüchtlingspolitik - Werden sie ernst genug genommen?" eingeladen war, pöbelt nicht montags auf Pegida-Demos Journalisten an. Er macht sich tatsächlich Sorgen, verständliche Sorgen. Der IT-Spezialist ist Mitgründer der "Bürgerinitiative Neugraben-Fischbek - Nein zur Politik! - Ja zur Hilfe!" In Greves Gesprächsbeiträgen bei Anne Will kommen weniger Ausrufezeichen vor. Ruhig erklärt er, wovor er und viele Bürger des Hamburger Stadtteils Neugraben-Fischbek Angst haben. Die Stadt plant, dort 3000 bis 4000 Flüchtlinge in Massenunterkünften unterzubringen. Greve sagt: "Wir fürchten uns davor, dass sich bei uns ein Flüchtlings-Ghetto bildet."
"Wie sollen wir so viele Menschen integrieren?"
Massenunterkünfte - vor allem darum ging es in den 75 Minuten. Die Diskussion beschäftigte sich mehr mit dem Problem, dass Flüchtlinge in Massen zusammengepfercht werden als mit den Ängsten der Bürger. Das eine bedingt ja das andere. Greve stellt klar, was er und seine Initiative nicht seien: gegen Flüchtlinge - oder für Pegida. "Neugraben-Fischbek ist schon ein Brennpunkt. Wir haben Erfahrungen mit Flüchtlingen und unterschiedlichen Kulturen und haben da auch schon große Erfolge. Aber wie sollen wir so viele Menschen integrieren?"
Anne Will bricht Greves Ängste auf einen Satz herunter, der so auch aus dem Mund eines Stammtisch-Besuchers kommen könnte, dabei aber auch das wesentliche Problem der Flüchtlingsdebatte in Deutschland zeigt: "Ich hab ja nichts gegen Flüchtlinge. Aber was gegen zu viele Flüchtlinge in meiner Nähe." Bürger wie Greve fühlen sich überfahren.
Hier geht es nicht um Menschen, die sich seit Jahren abgehängt fühlen und in der Flüchtlingsdebatte ein Ventil für ihre Ressentiments finden. Hier ist berechtigte Angst zu spüren. Leute wie AfD-Chefin Frauke Petry oder ihr Thüringen-Chef Björn Höcke schaffen es durch ihren Populismus und ihre Hetze, solche Ängste weiter anzuheizen und in Vorurteile, vielleicht auch in Hass umzuwandeln. Greve stellt fest: "Ängste sind nicht immer rational. Und nicht jeder denkt immer so differenziert darüber nach wie ich."
Stimmen wie die von Greve gehen in der öffentlichen Wahrnehmung im schrillen Geschrei von Pegida und AfD-Politikern unter. Als AfD-Chefin Frauke Petry am Montag bei "Hart aber fair" monierte, dass sich viele Deutsche angeblich nicht mehr trauen, ihre Meinung zu Flüchtlingen zu sagen, meinte sie nicht Menschen wie Greve. Petrys Kritik kommt vielmehr als ein Bedauern daher, dass nicht noch mehr Menschen ihrem populistischen Kurs folgen.
Die Massenunterkünfte also. Diana Henniges, Gründerin der Berliner Bürgerinitiative "Moabit hilft!" und Ulf Küch, Leiter der Kriminalpolizei Braunschweig, sind da auf einer Linie mit dem Hamburger Greve. Henniges versorgt mit ihrer Initiative unter anderem Flüchtlinge am Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales, dem wegen der chaotischen Zustände berüchtigten Lageso.
Wer den Einspieler mit Szenen vor dem Lageso gesehen hat, versteht, warum Henniges vor allem bitter lacht oder mit den Augen rollt, wenn Jan Stöß, Vorsitzender des Berliner SPD-Landesverbandes, das Wort ergreift. Da stehen Hunderte vom Regen durchnässte Flüchtlinge Schlange, Abend für Abend, Kinder weinen. Sobald das Amt öffnet, bricht Massenpanik aus, Menschen kollabieren vor Erschöpfung.
Was macht das mit diesen Menschen? Vor der Antwort auf diese Frage fürchten sich Menschen wie Jan Greve.