"Anne Will" über die deutsche Pandemiepolitik:Die große Sehnsucht nach einem Plan

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Anne Will ließ zur Perspektive der deutschen Pandemiepolitik diskutieren. (Foto: NDR/Wolfgang Borrs; NDR/Wolfgang Borrs/NDR/Wolfgang Borrs)

Olaf Scholz will nicht unnötig "usurpieren", Annalena Baerbock liebt alle Kinder. Und Christian Lindner die Wirtschaft. Über Verrammlungsfanatiker, Staatsanbiederungskunst und Jugendverzweiflung.

Von Cornelius Pollmer

Diese Ausgabe von Anne Will zur Pandemiepolitik wirkt wie ein Elternabend. Man kennt die herumsitzenden Mütter und Väter von irgendwann neulich, ihre Themen sind wieder dieselben und sie werden weiterhin so ausgesprochen engagiert diskutiert, dass man sich kurz fragt, warum in der Zeit zwischen dem letzten und diesem Elternabend mal wieder kaum etwas passiert ist.

Tatsächlich überschrieben ist der Abend mit der für eine Fernsehsendung etwas länglichen Frage "Lockdown statt Perspektivplan - ist die deutsche Pandemiepolitik wirklich alternativlos?" Anne Will möchte wissen, warum das vorläufige Klassenziel der Sieben-Tage-Inzidenz von 50 auf 35 verschärft wurde, wie es für Deutschland zu erreichen ist, und ob trotz spontaner Mutationen und sonstiger Überraschungen in dieser Pandemie politisch endlich mehr strategisch in die erweiterte Zukunft gearbeitet werden könne.

So kurz nach dem 90. Geburtstag Thomas Bernhards darf man während der Sendung an ihn und seine Worte denken, weil sie oft schöner klingen als die durch Wiederholung abgeschliffenen Sätze in der Elternabendrunde. Christian Lindner (FDP) nennt Markus Söder (CSU) zwar nicht nach Bernhard einen "Verrammlungsfanatiker". Aber er mahnt mit Blick auf den Lockdown an, das Ziel müsse sein, "trotz Virus gesellschaftliches zu Leben ermöglichen", statt immer nur mit Lockdowns zu reagieren.

Annalena Baerbock, Grüne, verwendet zwar nicht das schöne Bernhard-Wort "Jugendverzweiflung", aber sie hat sich erkennbar vorgenommen, in der Sendung zu sagen, dass für Kinder mehr getan werden müsse. Nun ist Bildung Ländersache und die Grünen sind in elf Landesregierungen vertreten. Vielleicht betont Baerbock deswegen, man solle einen nationalen Fonds aufsetzen. Und sie macht noch einen Vorschlag. Schon jetzt helfen Studierende der Medizin in Krankenhäusern - warum, fragt Baerbock, kämen auf Lehramt Studierende derzeit nicht verstärkt in der Beschulung zum Einsatz?

Reagieren statt regieren

Journalisten wird in dieser Pandemie zuweilen vorgeworfen, sie würden das betreiben, was Bernhard "Staatsanbiederungskunst" nannte. Melanie Amann vom Spiegel ist dieser Vorwurf am Sonntag nicht zu machen. Sie sagt mit Blick auf ein Jahr Corona, das Regieren sei in dieser Zeit "ein reines Reagieren" gewesen. Als nur neuestes Beispiel in einer ganzen Reihe nennt sie absehbar zu geringe Kapazitäten bei den Selbsttests für die Bevölkerung.

Das nächste Problem zeichne sich mit der Impflogistik ab: Wird, wenn einmal genügend Impfstoff da ist, auch genügend Logistik zum schnellen Verimpfen bereitstehen? Amann diagnostiziert, "dass wir ein Verschwimmen der Verantwortung erleben in dieser Pandemie", weil alle ständig mit den Fingern auf andere zeigen würden, wenn mal etwas schiefgehe. Olaf Scholz (SPD) sagt später zumindest Abnahmegarantien für Selbsttests fernsehöffentlich zu. Die sollen die Produktion ankurbeln.

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Wie es eben nicht nur auf Elternabenden ist, gerät irgendwann - weil abends, weil alle erschöpft - die eigentliche Frage verlässlich aus dem Blick. Das fällt fast gar nicht mehr auf, weil man es ja schon kennt aus der Sendung von vor zwei Wochen oder drei Monaten. Es ist also weiterhin so: Alle wollen vorsichtig sein, wobei Markus Söder betont, dass er noch ein bisschen vorsichtiger sein will als alle anderen. Und dass er das im Übrigen "bei uns in Bayern" und "wenn ich das sagen darf" schon gewesen sei.

Niemand will die Kinder vergessen, wobei Annalena Baerbock betont, dass sie ihr wirklich besonders am Herzen liegen. Wirtschaft ist auch wichtig, wobei Christian Lindner das gar nicht mehr gesondert betonen muss, dass sie ihm ganz besonders wichtig ist. Wissen alle. Wahlkampf wird auch bald sein, aber ist noch nicht so richtig, weswegen SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz seine zugegeben tendenziell wirklich kürzeren Antworten damit einleitet, er wolle keine Monologe halten, also nicht die ganze Sendung "usurpieren".

Usurpieren bedeutet übrigens, das kann man zur Sicherheit nachschlagen, "widerrechtlich die Macht, die [Staats]gewalt an sich reißen". Hat das Virus gemacht. Und seitdem regiert es das Land durchgreifender als jede Regierung das aus guten Gründen dürfte, könnte, wollte. Es wird das Land und seine Talkshows weiterhin usurpieren. Das weiß auch die tapfere Moderatorin und deswegen sagt sie am Ende ihrer eigenen Sendung, von der sie weiß, dass diese wie erwartet keine eindeutige Antwort auf die selbstgestellte Frage gefunden hat, deswegen sagt Anne Will zum Ende dieser Elternabendsendung doch tatsächlich, Plan oder nicht, Perspektive oder nicht, alternativlos oder nicht, ja, es "könnt sein, dass wir das noch mal und weiterhin diskutieren".

Cornelius Pollmer (Foto: sz)
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