Anne Will zur Steuerpolitik:Nackensteaks für ein gutes Land

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"Volle Staatskassen, leere Portemonnaies - wird jetzt die Mittelschicht entlastet?", darüber wurde bei Anne Will diskutiert. (Foto: NDR/Wolfgang Borrs)

Die Talkshow Anne Will zum Thema Steuergerechtigkeit gibt Einblicke in das Klein-Klein der deutschen Politik. Das ist zwar ehrenwert, aber phasenweise grotesk.

Nachtkritik von Thomas Hummel

Ralph Brinkhaus sagt, er habe sich eine Sache fest vorgenommen: "Ich möchte darüber reden, dass dieses Land gut ist." Er sei traurig darüber, dass sich vier Mal in der Woche Menschen im Fernsehen treffen und sich gegenseitig erzählten, wie schlecht dieses Land sei. Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Bundestag kritisiert die Talkshows in der ARD und im ZDF. Das Dumme ist nur, dass er gerade in einer davon sitzt, bei Anne Will im beigen Sessel. Und es wäre tatsächlich eine Geschichte gewesen, hätten sich Brinkhaus und die anderen Gäste diesmal eine Stunde lang erzählt, wie schön doch alles sei in diesem wundervollen Deutschland, ein Paradies auf Erden. Dass wir uns alle gerne haben und fröhlich die nächste Woche beginnen.

Das Thema hätte dazu sogar Anlass dazu geben. Der Staat hat mal wieder so viel Geld eingenommen, dass er kaum mehr weiß, wohin damit. 19 Milliarden Euro Überschuss. Doch statt sich zu freuen, wie das Brinkhaus gerne hätte, passiert das, was immer passiert, wenn zu viel Geld da ist: Man streitet sich, wer wie viel davon kriegen soll. In diesem Fall: "Volle Staatskassen, leere Portemonnaies - wird jetzt die Mittelschicht entlastet?"

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Von Cerstin Gammelin

Das ist eigentlich ein ernstes Thema, denn tatsächlich hat sich die Steuerlast in den vergangenen Jahren ungleich verteilt. Der reiche Teil der Gesellschaft trägt heute wesentlich weniger zum großen Steuertopf bei als noch vor 30 Jahren. Währenddessen zahlen Menschen mit mittleren und niedrigen Einkommen relativ viel Steuern und Abgaben. Nun teilte das Bundesarbeitsministerium auf eine Anfrage der Linkspartei mit, dass Geringverdiener und die Mittelschicht den Hauptteil des deutschen Sozialstaats über ihre Sozialabgeben finanzieren. So fordern immer mehr Parteien einen mehr oder weniger großen Wurf in der Steuerpolitik, vor allem die Entlastung der sogenannten Mittelschicht. Doch wer ist eigentlich die Mittelschicht?

Mittlere Einkommen zu stark belastet?

Annette Dowideit, Reporterin der Zeitung Welt, schrieb ein Buch über diese Mittelschicht und nannte es "Die Angezählten". Sie erzählt von Facharbeitern, Krankenschwestern, Einzelhändlern, Flugbegleitern. Menschen, die nicht mehr ankommen in ihren Berufen, weil diese keine Sicherheiten mehr bieten. Steuern, Sozialversicherungsbeiträge, hohe Mieten, Lebenshaltungskosten - das alles sei bisweilen schwer zu stemmen. Dazu litten diese Menschen unter Abstiegsangst, weil kaum ein Job mehr sicher sei.

Dann kommt Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands. Der Mann mit dem markanten Backenbart ist in Talkshows stets dafür zuständig, von den sozialen Abgründen der Gesellschaft zu erzählen. Nach ein paar Erinnerungen, wie gut die alte Zeit war ("Damals war Blick nach vorne") geht's los: Heute herrschten Ängste und Unsicherheiten. "Jeder zweite neu abgeschlossene Arbeitsvertrag ist befristet." Die Leute hätten nichts zum Sparen fürs Alter. "80 Prozent im Osten haben nur die gesetzliche Rente. Im Westen über 50 Prozent." Dazu mangelt es an Investitionen. "Es fehlen 400 000 Vollzeitstellen im Bildungssystem." Auch bei der Polizei, Feuerwehr seien Stellen nicht besetzt. Marode Straßen, Schulen, Krankenhäuser. Seit der Finanzkrise 2008 fahre der Staat auf Verschleiß, sagt Schneider und fügt an: "Man muss den Leuten klarmachen: Das ist teuer, wenn wir den Staat so erhalten wollen."

Schnell ist klar, dass Landschaften auch im Jahr 2020 nicht überall blühen. Also was ist zu tun? Anne Will hat sich zur Klärung der Sache neben Brinkhaus noch den SPD-Vorsitzenden Norbert Walter-Borjans und FDP-Chef Christian Lindner eingeladen. Die drei reden dann auch mit Abstand am meisten (vor allem viel mehr als die einzige Frau in der Runde, Annette Dowideit). Doch am Ende bleibt eigentlich nichts, was sich die Zuschauer hätten merken müssen. Statt die großen Linien aufzuzeigen, bleibt die Runde im Klein-Klein des finanzpolitischen Alltags hängen. Das ist sicher ein ehrenwerter Alltag, aber für eine Sendung vor einem Millionenpublikum schwer verdaulich.

Manches ist fast schon grotesk. Christian Lindner bemerkt zum Problem der stockenden Sanierung der Infrastruktur: "An jeder Ecke hast du Artenschutz, da kann nicht gebaut werden." Er fragt Schneider, warum der in seinen Kindergärten nicht höhere Löhne zahle, was der knackig kontert, dass sich die Kindergärten refinanzieren müssten durch die öffentliche Hand. Lindner beklagt, dass man sich in Berlin an das Ergebnis des Bürgerentscheids hält, der eine Wohnbebauung des Tempelhofer Felds ablehnte. Außerdem plädiere er dafür, dass die Menschen am Ende ihres Berufslebens ihre Eigentumswohnung abbezahlt hätten - ohne allerdings in Betracht zu ziehen, dass diese Wohnungen für Menschen mittleren Einkommens in deutschen Städten quasi unerschwinglich geworden sind.

Walter-Borjans tut sich schwer, die geplante Finanztransaktionssteuer zu erklären und wer davon betroffen ist. Und Brinkhaus sagt, er stehe auf der Seite der Leute, die ein Nackensteak essen, weil diese das Rückgrat unserer Gesellschaft seien.

Talkshow-Geplänkel statt Fakten

Nicht nur Menschen, die zuletzt im Sommer gegrillt haben, fragen sich da, ob hier ein ernstes Thema besprochen wird oder man das Geplänkel unter dem Schlagwort "Talkshow" abheften kann. Die Redaktion von Anne Will versucht es zwischendurch mit Fakten, zum Beispiel dass seit 2004 die Anzahl der Menschen, die einem Zweitjob nachgehen von 1,9 auf 3,4 Millionen stieg. Annette Dowideit und Ulrich Schneider stellen fest, dass Stand heute wenig darauf hindeutet, dass man mit "bauen, bauen, bauen" (Brinkhaus) die astromisch gestiegenen Miet- und Kaufpreise für Wohnungen in den Städten in den Griff kriegt. Dass seit einiger Zeit eben die viel besungene Mittelschicht zunehmend aus den Metropolen verdrängt werde, wodurch an einigen Stellen ein Mangel an Arbeitskräften herrsche.

Es geht eher nach dem Motto Lindners: "Unser Problem in Deutschland ist doch nicht das Geld." Aus weltpolitischer Sicht hat er damit sicher recht. Und wenn Ulrich Schneider vom Wohlfahrtsverband einwirft, dass dies aber nicht überall gerecht verteilt ist, dann kommt Ralph Brinkhaus: "Sie sitzen seit 20 Jahren in Talkshows und erzählen, wie schlecht dieses Land ist, das find ich einfach nicht in Ordnung." Er will sich sein Deutschland an diesem Abend partout von niemandem schlecht reden lassen.

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