In Deutschland geht ein Arbeitstag zu Ende, in Kalifornien ist es neun Uhr und Robert Sutton, Organisationsforscher an der Stanford University, sitzt frisch und gut gelaunt vor der Webcam in seinem Büro. Technische Fragen, bevor es losgeht. Läuft das Aufnahmegerät? "Ich nehme es auch auf, dann haben Sie ein Back-up", sagt er. Wie hilfsbereit. Wenn doch nur alle Menschen so wären, denen man bei der Arbeit begegnet. Und Sutton ist der Richtige, um über dieses Thema zu reden.
SZ: Entschuldigen Sie bitte diesen uncharmanten Einstieg in unser Gespräch: Sind Sie ein Arschloch, Herr Sutton?
Robert Sutton: Oh, die Frage höre ich oft. Kein Arschloch gibt zu, eines zu sein, also erwarten Sie bitte keine ehrliche Antwort von mir (lacht). Aber im Ernst: Wir neigen dazu, Arschlochhaftigkeit als einen Persönlichkeitszug zu betrachten. Aber jeder kann zum Arschloch werden, zumindest zeitweise unter bestimmten Umständen.
Sie auch?
Sicher. Vor einigen Jahren hatte ich einen Studenten in meinem Seminar, der mich und auch alle anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit irrelevanten Kommentaren genervt hat. Der Typ hat mich echt angekotzt. Als er dann auch noch eine lausige Hausarbeit eingereicht hat, habe ich ihm eine sehr saftige Mail geschrieben, in der ich durchblicken ließ, dass ich ihn für faul, inkompetent und charakterlich fragwürdig halte. Er war sauer und hat meine Mail an unseren Fakultätschef weitergeleitet, einen sehr anständigen Mann mit gutem Gespür für Gerechtigkeit. Der verlangte von mir, dass ich mich auf der Stelle bei dem Studenten entschuldige. Ein sehr guter Boss. Ich bin ihm dankbar.
Was macht Menschen zu Arschlöchern?
Die Situation mit diesem armen Studenten war ja wie aus dem Lehrbuch: Ich war müde und im Stress, als ich die Mail schrieb. Ich hatte beim Schreiben keinen Blickkontakt zu dem jungen Mann. Und ich war der Mächtigere von uns beiden.
Täuscht der Eindruck, dass gerade die Arbeitswelt ein ausgezeichnetes Biotop für Arschlöcher ist?
Solche Leute gibt es überall, aber im Job herrschen die perfekten Ausgangsbedingungen, um abscheuliches Verhalten hervorzubringen. Es gibt Fristen, es gibt Stress, es gibt Statusunterschiede. Und in vielen Unternehmen gab es lange die Tendenz hin zu offenen Büros. Da verbreitet sich das Gift dann besonders prächtig. Hockt da ein Arschloch, springt die ganze Arschlochigkeit direkt wie ein Virus zum nächsten über.
Solche Typen sind ansteckend?
Oh ja, enorm. Zwei Kollegen von der Harvard Business School haben zwei Jahre lang 2000 Beschäftigte in einem Tech-Unternehmen beobachtet. Je näher ein Mitarbeiter neben einem toxischen Kollegen saß, desto größer war sein Risiko, selbst zu einem üblen Fiesling zu mutieren. Auch freundliches, kooperatives Verhalten ist ansteckend. Nur: Fieses Verhalten ist leider noch ansteckender.
Woran liegt das?
Wahrscheinlich daran, dass wir emotional stärker und nachhaltiger auf Schikanen und Beleidigungen reagieren als auf Freundlichkeit und Kollegialität. Eine Studie aus dem Jahr 2012 zeigt außerdem, dass tyrannische Bosse dazu neigen, tyrannische Teamleiter einzustellen. Diese Aggressivität verbreitet sich also von oben nach unten.
Ist es nur ein Ressentiment missgünstiger Untergebener oder sind tatsächlich vor allem die Chefs die Arschlöcher?
Das sind sie wahrscheinlich wirklich. Das Gefühl der Macht verleitet Menschen dazu, sich mehr auf ihre eigenen Bedürfnisse zu konzentrieren als auf die anderer. Der Psychologe Dacher Keltner von der University of California in Berkeley hat dazu unzählige Untersuchungen angestellt. Studierende, die in einem Experiment zufällig die Rolle des Managers bekamen, beanspruchten für sich im Anschluss eine größere Belohnung als die in der Rolle des Mitarbeiters. Und an Kreuzungen hielten die Fahrer billiger Autos fast immer für Fußgänger, ein Mercedes-Benz hielt nur in 50 Prozent der Fälle. Die Essenz seiner Forschung ist klar und wenig schmeichelhaft: Wer Macht hat, neigt dazu, Menschen als Mittel zum Zweck zu betrachten.
Aber für einen Chef zahlt sich die Rücksichtslosigkeit aus.
So wie bei Steve Jobs?
Zum Beispiel.
Ich habe vor ein paar Jahren einmal mit einem jungen CEO gesprochen, der befürchtete, er könnte zu wenig wie Steve Jobs sein, um etwas zu reißen. Das höre ich immer wieder. Steve Jobs ist das Paradebeispiel eines Arschlochs, und viele aufstrebende Manager meinen, sich an ihm orientieren zu müssen. Aber bei genauerer Betrachtung steht sein Fall eher für das Gegenteil.
Inwiefern?
Zu Beginn seiner Karriere war Jobs herrisch, reizbar, ohne jedes Einfühlungsvermögen. Mitte der Achtzigerjahre flog er bei Apple raus, dem Unternehmen, das er mitgegründet hatte. Er ging zwischendurch zu Pixar, wo ein sehr viel humaneres und kooperativeres Klima herrschte. Das hat auch ihn etwas sanfter werden lassen. Als Jobs in den Neunzigern zu Apple zurückkehrte, war er bereits eine freundlichere Version seiner selbst geworden. Vielleicht hat also erst der vergleichsweise nette Steve Jobs Apple wirklich groß machen können.
Lohnt es sich nicht, zumindest manchmal ein Ekel zu sein?
Aber wirklich nur manchmal. Es gibt eine sehr interessante Studie über Uni-Basketballteams. Die Forscher hatten von 23 Teams die Mitschnitte der Kabinenansprachen der Trainer aus den Halbzeitpausen. Die ganz netten Trainer, die ihre Spieler nie zurechtwiesen, waren relativ erfolglos. Die Arschlochtrainer schnitten interessanterweise allerdings genauso schlecht ab. Am besten haben die Trainer abgeschnitten, die eigentlich nett und freundlich waren, aber ihren Leuten zumindest mal einen gelegentlichen Anschiss gaben. Ein temporäres Scheusal zu sein, wenn es sein muss, kann tatsächlich was bringen. Untergebene permanent wie Dreck zu behandeln, ist meiner Meinung nach aber kein Weg zum Erfolg, weder für ein Unternehmen noch für einen persönlich.
Woran erkenne ich diese Menschen im Job?
Bei Reddit gibt es einen ganz lustigen Thread: "Am I the asshole?" Da beschreiben Menschen Vorfälle aus ihrem Alltag und fragen die User, ob der andere das Arschloch war - oder doch vielleicht man selbst. Das zu beantworten, ist in vielen Situationen nicht so einfach. Das Leben ist komplex! Ein guter Anhaltspunkt ist in jedem Fall: Was sagen die Kolleginnen und Kollegen? Verhält sich dieser miese Typ nur mir gegenüber so derart beschissen oder leiden andere auch unter ihm? Kommen die Abscheulichkeiten regelmäßig vor oder bleiben sie Ausrutscher? Der Flurfunk ist eine nicht zu unterschätzende Hilfe, um Arschlöcher aufzuspüren.
Was kann man tun, wenn man an ein besonders übles Exemplar geraten ist?
Im Idealfall: Versuchen Sie, so schnell wie möglich wegzukommen. Setzen Sie sich der toxischen Substanz so wenig wie möglich aus.
Kündigen?
Das ist ein radikaler Ausweg, dessen Segen meiner Meinung nach von vielen unterschätzt wird. Mir schrieb einmal ein Mann, dass er sieben Jahre lang die Torturen in seinem Arschlochunternehmen ertragen hat. Wie schlimm das war, wurde ihm erst klar, nachdem er gekündigt hatte. Aber diesen Schritt muss man sich selbstverständlich sehr gut überlegen. Vielleicht gibt es ja die Möglichkeit, intern zu wechseln? Das sollte man in Betracht ziehen. Zwischen zwei Teams im selben Unternehmen liegen mitunter Welten.
Und wenn man nicht so einfach wegkann?
Dann versuchen Sie zu überleben, so gut es geht. Meine Bekannte Becky machte üble Erfahrungen als junge Kadettin an der Militärakademie West Point, die tägliche Schikane war da ein festes Ritual. Die Soldaten der höheren Klassen verlangten jeden Morgen von ihr, die Schlagzeilen der New York Times zu rezitieren, und schrien sie an bei jedem Fehler, der ihr dabei unterlief. Grauenhaft! Aber irgendwann fing Becky an, ihre Peiniger einfach als Comedians zu betrachten und das ganze Ritual als einen absurden Sketch. Das machte es erträglicher. Manchmal hatte sie sogar Mühe, ihr Lachen während der Tortur zu unterdrücken (lacht).
Trotzdem schreiben Sie, eine schlimme Situation derart umzudeuten, sei ein Medikament mit Nebenwirkungen.
Den Blick zu ändern kann ungemein helfen und das Leid lindern. Es kann uns gelassener machen. Aber es kann leider auch unsere Blindheit befördern. Wir übersehen die fiesen Typen und ihre hinterhältigen Machenschaften, wir verpassen womöglich die Gelegenheit, ihnen zu entkommen. Oder sogar, im richtigen Moment zurückzuschlagen.
Zurückschlagen klingt befreiend. Sollten wir ein Arschloch nicht tatsächlich lieber öfter ganz offen ein Arschloch nennen?
Vorsicht! Wenn wir es mit einem ahnungslosen Arschloch zu tun haben, mit jemandem, der unbeabsichtigt die Gefühle anderer Menschen mit Füßen tritt - dann vielleicht. Dann kann ein klares Gegenwort helfen, so jemandem etwas mehr Selbsterkenntnis zu verschaffen. Vielleicht ist das ahnungslose Arschloch im Nachhinein sogar dankbar für den kleinen Einlauf, so wie ich meinem Fakultätschef damals. Aber ein strategisches Arschloch wird dich zerquetschen. Es macht dich alle. Ich wäre deswegen sehr zurückhaltend.
Ist gelegentliche Rache nicht zumindest gut fürs Gefühl?
Darauf deutet eine Studie von Bennett Tepper von der Ohio State University und seinem Team hin. Sie befragten Angestellte, die unter feindseligen Vorgesetzten zu leiden hatten. Angestellte, die sich wehrten, waren zufriedener und verzweifelten nicht so sehr. Das ist natürlich gut, einerseits. Der Haken ist nur: Das Zurückschlagen führt selten zum Erfolg. Harvey A. Hornstein von der Columbia University hat in einer Studie ermittelt, dass in 68 Prozent der von ihm untersuchten Racheaktionen der bösartige Chef sein Verhalten nicht änderte. Die Konsequenzen einer Niederlage können dafür gravierend sein, wenn man auf den Job angewiesen ist. Ich hasse es ja, realistisch zu sein. Aber es braucht schon eine sehr günstige Konstellation für einen erfolgreichen Kampf.
Und wie sähe die aus?
Nehmen Sie die Geschichte von Roger Ailes, dem Gründer von Fox News, sicher eines der größten Arschlöcher in der Geschichte der Medien. Über Jahre konnte er Mitarbeiterinnen sexuell belästigen, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden. Bis die Moderatorin Gretchen Carlson klagte. Das Management hatte sich sofort hinter Ailes gestellt, aber Carlson hatte über die Zeit unschlagbare Beweise gesammelt: Auf heimlichen Handyaufnahmen hört man, wie Ailes sie unverhohlen auffordert, mit ihm ins Bett zu gehen. Weitere Mitarbeiterinnen schlossen sich der Klage an, und schließlich war der Druck einfach zu groß, Ailes wurde gefeuert. Es kamen in diesem Fall drei Dinge zusammen, die entscheidend sind: Die Vorfälle waren perfekt dokumentiert. Carlson stand nicht allein mit den Vorwürfen. Und Ailes' Stern bei Fox News sank bereits. Das ist eine Warnung an alle Arschlöcher: Seid vorsichtig, eines Tages wird auch eure Position schwächer, und die Opfer warten nur darauf.
Es ist mehr als zehn Jahre her, dass Sie Ihr erstes Buch über Arschlöcher veröffentlicht und eine breite Debatte angestoßen haben. Glauben Sie, dass sich die Situation inzwischen verbessert hat?
Meine Vermutung ist eher, dass es schlimmer geworden ist.
Warum?
Weil heute mehr Arbeit online stattfindet, spätestens seit der Corona-Pandemie. Das heißt: Die Kommunikation wird dünner, die Emotionen der Gegenseite sind schwieriger zu verstehen und zu deuten. Selbst Videokonferenzen können das nicht auffangen. Außerdem hat sich das Machtgefälle in vielen Unternehmen über die Jahre vergrößert. Ein Vorstandschef verdient heute ein Vielfaches von dem, was die Durchschnittsangestellte erhält. Die Forschung zeigt recht gut: Je größer die Ungleichheit wird, desto mehr Scheußlichkeiten erlauben sich Menschen, vor allem die Privilegierten. Meine Freundin Katherine DeCelles, die auch an der Studie über die Kabinenansprachen der Basketballtrainer beteiligt war, hat mit ihren Kollegen ausgewertet, wann Fluggäste sich danebenbenehmen. In Maschinen mit Einheitssitzen verhielten sich die Passagiere relativ anständig. Wo es verschiedene Klassen gab, kam es viel häufiger zu aggressiven Zwischenfällen und Pöbeleien. Und zwar vor allem bei den Gästen in der Business-Class.
Wie verhindert man, dass die Arbeit Menschen in Arschlöcher verwandelt?
Organisationen müssen freundliches Verhalten belohnen und abscheuliches bestrafen, gute Firmen geben sich eine Anti-Arschloch-Regel und setzen die konsequent von oben nach unten um. So wie mein Chef es tat, als ich damals diesen armen Studenten anpisste. Eine meiner ehemaligen Studentinnen erzählte mir einmal, wie es in ihrem Job läuft: Ich bin eigentlich kein sehr netter Mensch, sagte sie, aber hier muss ich leider so tun, als wäre ich einer, sonst bekomme ich meine Arbeit nicht hin.
Zur Person:
Robert Sutton, 1954 in Chicago geboren, ist Organisationspsychologe und Professor an der Universität Stanford, wo er seit 1983 lehrt. Er leitet dort Weiterbildungsprogramme für Führungskräfte, außerdem ist er als Berater für verschiedene Unternehmen tätig. Suttons Buch "Der Arschloch-Faktor" wurde weltweit zu einem Bestseller - und ließ seither sein E-Mail-Postfach mit Hilferufen überquellen. Mehr als 8000 Nachrichten seien es, dazu kommen wöchentliche Notrufe per Telefon. Es habe eine Weile gedauert, schreibt Sutton, ehe er sich damit abgefunden habe, dass er von nun an "immer zuerst und vor allem als der 'Arschloch-Kerl' gesehen werde". 2018 folgte ein Survival-Guide mit praktischen Tipps: "Überleben unter Arschlöchern" (Piper).