70 Jahre Grundgesetz:Das kühne Versprechen der unteilbaren Menschenwürde

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Bundespräsident Steinmeier in Israel

Verneigung vor den Opfern: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem (2017).

(Foto: dpa)

Unter dem Schutz der Menschenwürde kann sich jeder etwas vorstellen, nur ist es bei jedem etwas anderes. Dabei geht es nicht um dünnhäutige Sportmanager oder ertappte Kiffer, sondern zum Beispiel um Häftlinge und Hartz-IV-Empfänger.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

"Die Würde des Menschen ist unantastbar." Der Satz ist ein atemberaubendes Versprechen und fast schon eine Anmaßung. Wie oft hört man in den Nachrichten, dass die Menschenwürde nicht nur angetastet, sondern in den Staub getreten wird. Trotzdem formuliert Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz einen verfassungsrechtlichen Superlativ. Die pathetische Sentenz erlaubt keine Relativierung, sie ist keine Zusage, die sich selbst zurücknimmt, sie kennt kein zögerliches "Kommt drauf an" und nicht einmal die Abwägung mit anderen Grundrechten.

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das klingt wie das Paradies.

Die Wahrheit ist: Der Schutz der Menschenwürde wurde aus der Hölle geboren.

70 Jahre Grundgesetz

Die deutsche Verfassung ist am 8. Mai 1949 beschlossen worden und mit Ablauf des 23. Mai 1949 in Kraft getreten. Weitere Artikel aus dem SZ-Grundgesetz-Spezial finden Sie hier.

Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten die Barbarei und den Zivilisationsbruch der Nazizeit noch schrecklich klar vor Augen. Ein Staat hatte sich zum größten Verbrechen der Menschheit verschworen. Da galt es im Parlamentarischen Rat, die Vorzeichen des neuen Staates umzukehren, von minus auf plus. Artikel 1 rückt den Menschen ins Zentrum der staatlichen Existenz. So steht es im zweiten Satz, die Menschenwürde wird darin zum Betriebssystem des Staates: "Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

Artikel 1 schützt den "Kernbereich privater Lebensgestaltung"

Im Entwurf von Herrenchiemsee hatte man zunächst sogar noch eine Erläuterung vorangestellt, um ja keinen Zweifel aufkommen zu lassen: "Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen." Ein klarer, ein großer Satz, schade, dass er dann doch nicht ins Grundgesetz aufgenommen wurde. Er könnte Regierungen und Parlamente Demut lehren.

Dass eine Verfassung einen Eid auf den Menschen ablegt, das war ein gewaltiger Fortschritt. Denn historisch ist die Menschenwürde noch jung. Gewiss, der Begriff der Würde ist alt, aber seine Bedeutung war eine andere. Wenn man im Römischen Reich von Würde sprach, von "dignitas", dann war damit die Würde des Amtes oder eines höheren Ranges gemeint. Das war ein Konzept der Ungleichheit und damit das Gegenteil dessen, was das Grundgesetz meint. Menschenwürde genießt nicht nur der Erfolgreiche, nicht nur der Begabte, nicht nur der Reiche - nicht nur der "Würdenträger". Sondern der Mensch, weil er Mensch ist. Nicht einmal in der Französischen Menschenrechtserklärung von 1789 findet sich dieser radikale Gedanke; dignités meint dort ebenfalls die Ämterwürden.

Das Schöne und das Gefährliche daran ist: Jeder kann sich darunter etwas vorstellen, nur ist es bei jedem etwas anderes. Die Varianten reichen bis ins Groteske, das weiß man, seit der Bayern-Boss Karl-Heinz Rummenigge in einer Pressekonferenz nach der größtmöglichen Vokabel suchte, um die öffentliche Kritik an den unantastbaren Fußballern des FC Bayern als maximal verwerflich zu brandmarken - es fiel ihm die Menschenwürde ein. Zum Vergnügen des Publikums, das natürlich bemerkt hatte, dass es nicht die Sorge um die Menschenwürde war, die Rummenigge antrieb, sondern Hybris und Arroganz. Aber der bizarre Auftritt illustriert, dass Menschenwürde manchmal eine Frage des Standpunkts ist.

1993 hatte das Bundesverfassungsgericht über die Beschwerde eines entlassenen Straftäters zu entscheiden, der - weil wegen Drogendelikten verurteilt - die Weisung erhielt, während der Bewährungszeit jeden Kontakt mit Drogen zu vermeiden, sonst müsste er zurück ins Gefängnis. Er hielt das für eine Verletzung seiner Menschenwürde. Die Verfassungsrichter dagegen belehrten ihn, die behördliche Weisung solle ihn nicht etwa erniedrigen, sondern vor weiteren Straftaten bewahren.

Menschenwürde meint weder den Ärger dünnhäutiger Sportmanager noch die Ehre des Kiffers, das ist leicht zu begreifen. Aber was ist das - Menschenwürde? Ist sie greifbar, messbar, sichtbar - oder nur Verfassungslyrik? Was kann man sich kaufen für diese Menschenwürde?

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