Dem Geheimnis auf der Spur:Eiszeit für Hollywood

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In der kanadischen Grenzstadt am Yukon River leben heute nur noch wenig Menschen. Während des Goldrauschs 1896 hatte Dawson City noch 40 000 Einwohner. (Foto: mauritius images / Alamy Stock)

In der Goldgräberstadt Dawson City lag jahrzehntelang ein vergessener Filmschatz, versteckt unter einem Eishockeyfeld.

Von Sofia Glasl

Vielleicht wird es doch nichts mit dem Schatz: Big Jim hat nach seinem Fund eine übergebraten bekommen und deshalb vergessen, wo sein Gold liegt. Hier im winterlichen Alaska ähnelt eine Schneewehe der anderen, wie soll er sich da an den richtigen Ort erinnern? Sein gutmütiger Freund, der Tramp, will ihm helfen, das Lager wiederzufinden. Spätestens hier begeben sich in Charlie Chaplins Film "Der Goldrausch" Menschlichkeit und Kapitalismus in den direkten Clinch.

Der Klondike-Goldrausch war längst vorbei, als Chaplin mit seinem Film 1925 in Los Angeles Premiere feierte. Die Schürfer fielen zwischen 1896 und 1898 gierig über Alaska und Kanada her. Einer der größten Umschlagplätze war damals die kanadische Grenzstadt Dawson, wo der Klondike River auf den Yukon trifft. 1896 aus dem Boden gestampft, wuchs die Stadt innerhalb eines Jahres auf 40 000 Einwohner an. Als der Goldrausch 1899 weiterzog, waren kaum noch 9000 Leute übrig.

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Was jedoch blieb, war die schnell aufgezogene Infrastruktur: Kirchen, Bars, Bildungs- und Freizeiteinrichtungen, nun leergefegt wie Filmkulissen nach dem Dreh und über Jahrzehnte hinweg dem Verfall überlassen. Dass hier mehr als 75 Jahre später noch mal ein Schatz gehoben werden sollte, konnte damals niemand ahnen. Auch da spielte das Vergessen eine entscheidende Rolle - und ein pragmatischer Banker: Clifford Thomson.

Der zugefrorene Boden hatte das empfindliche Material gut konserviert

Der löste nämlich 1929 gleich zwei Probleme auf einmal. Der ehemalige Pool des Sportvereins von Dawson City diente schon länger als Feld für die Eishockeyliga, deren Kassenwart Thomson war. Doch weil die Fläche ursprünglich als Schwimmbecken konzipiert war, schwankten die Temperaturen zur Mitte hin beträchtlich, und das Eis weichte auf. Thomson begann, das Becken mit Unrat aufzufüllen - unter anderem mit Material, das die örtliche Bücherei loswerden wollte: In den Kellern der Bibliothek lagerten mehrere Hundert Filmrollen, damals noch aus hochentzündlichem Zelluloid, das seit seiner Einführung weltweit verheerende Brände in Lichtspielhäusern und Produktionsstätten verursacht hatte.

Die Rollen hatten sich über die Jahre angesammelt, denn Dawson war meist die wortwörtliche Endstation für die Filme. Die Produktionsfirmen schickten die Kopien oft erst Jahre nach der ersten Aufführung in die entlegene Region und hatten danach keine Verwendung mehr für die alten Filme, zumal der Rücktransport teuer gewesen wäre. Thomson warf die Rollen also einfach mit zum Sperrmüll und füllte die Grube mit Erde auf. So konnte er auf der Eisbahn eine konstante Temperatur gewährleisten.

Die Filmrollen gerieten in Vergessenheit, denn anders als das Gold war ihr Verbleib für niemanden von Wert. Nicht einmal für die drei Kinos im Ort, da mittlerweile der 1927 eingeführte Tonfilm angesagt war. Zeitungsberichte von damals bestätigen, dass ein Schwung Filmrollen auch im Yukon River versenkt wurde.

Das Eishockeyfeld wäre vermutlich das Grab für das Material geworden, wären nicht 1978 Arbeiter beim Bau eines Freizeitzentrums auf die Grube gestoßen. Der Historiker Michael Gates besichtigte den Fundort und stellte fest, dass das empfindliche Material noch brauchbar war: Der zugefrorene Boden hatte das Zelluloid, das sich sonst sehr schnell selbst zersetzt, konserviert. Aus einer Schutthalde war innerhalb kürzester Zeit eine Schatztruhe geworden: der "Dawson Film Find".

Unter den Fundstücken waren verschollene Stummfilme

Gates ließ die Rollen sicherstellen und machte sich mit der Kuratorin des Dawson City Museum, Kathy Jones, daran, sie zu sichten. Die 533 Rollen wurden an Archive und Museen übergeben, um sie zu konservieren. Das Besondere an dem Fund: Ein Großteil der Rollen sind Unikate. Das Material wurde nach und nach restauriert und zum Teil auch digitalisiert. Ein Jahr später zeigte das Palace Grand Theater in Dawson schon die bis dahin wiederhergestellten Filme.

Doch erst der New Yorker Filmemacher Bill Morrison verschaffte dem spektakulären Fund 2016 die Aufmerksamkeit, die er verdient. In seinem Dokumentarfilm "Dawson City: Frozen Time" macht er die Tragweite des gefundenen Materials deutlich. Aus den sage und schreibe 372 Spielfilmen, Wochenschauen, Sportnachrichten und wissenschaftlichen Programmen leitet er eine kleine Kulturgeschichte ab. Die Kinos waren damals eine der wenigen Informationsquellen für abgelegene Städte und die Wochenschauen die Verbindung zur Außenwelt. Der Film Find ist ein reichhaltiger Querschnitt der Informationen, die Dawson damals erreichten: Nachrichten über das Ludlow-Massaker, bei dem 1914 die Nationalgarde in Colorado auf streikende Bergarbeiter geschossen hatte, oder bisher unbekannte Bilder von der Baseball World Series 1919, die von einem Wettskandal überschattet wurde.

Filmgeschichtlich ist der Fund ebenso von unschätzbarem Wert: Unter den Rollen waren Stummfilme, die als verschollen gegolten hatten, etwa von D.W. Griffith und Tod Browning, Filme aus dem frühen Hollywood. Ihnen allen gemeinsam ist der sogenannte "Dawson Flutter", ein Flattern im Bild: Die Nässe im Permafrostboden hinterließ trotz der sonst günstigen Bedingungen nämlich Spuren auf dem Zelluloid: eine weiße Musterung an den Bildrändern, die den Filmen ihre Geschichte regelrecht einschreibt. Film konserviert Geschichte, das macht der Fund gleich auf mehreren Ebenen deutlich.

Und die Filmrollen im Yukon River? Sie wurden bisher nicht gefunden. Bill Morrison geht davon aus, dass sie im Wasser ebenfalls erhalten worden sein könnten. Die Schatzsuche, sie ist womöglich noch nicht vorbei.

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