Obdachlosenhilfe:"Manche haben vergessen, welche Fähigkeiten sie haben"

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David, 59, will als Kellner arbeiten. Deshalb schießt Helfer Ilja ein Bewerbungsfoto. (Foto: Jan-Erik Nord/Berliner Stadtmission)

Bewerbungstraining für Obdachlose - funktioniert das? Das neue Angebot der Berliner Stadtmission könnte bald Nachahmer finden.

Von Clara Lipkowski, Berlin

Veronika ist den ganzen Tag durch Berlin gelaufen. Es waren ein paar Grad über null, und als ihr kalt wurde, steuerte sie eine Einrichtung in Lichtenberg an. Zum Aufwärmen. "Und zum Mittagessen", sagt sie. Veronika, 42, ist froh, wenn sie mittags umsonst irgendwo essen kann. Meist in einer der Anlaufstellen für Menschen, die keinen festen Wohnort haben. Jetzt am Abend kommt sie zur Notunterkunft an der Frankfurter Allee im Osten der Stadt. Heute ist hier alles ein bisschen anders als sonst. Heute ist hier Bewerbungstraining für Obdachlose.

Das riesige Waben-Zelt der Berliner Stadtmission steht am Containerbahnhof, gleich hinter einer Shoppingmall, dort, wo die Lichter der Werbetafeln nicht mehr leuchten. Ein paar Menschen stehen vor dem Eingang Schlange, halten Taschen und Tüten, Atem- und Zigarettenrauchwolken steigen auf. Es ist kurz nach acht, es wird kälter, und sie hoffen auf einen Schlafplatz. Und unter manchen hat sich rumgesprochen, dass man hier heute auch nach Jobs schauen kann.

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Wie viele Obdachlose genau in Berlin leben, weiß niemand, da es keine Registrierungspflicht gibt. Die Stadtmission, eine Einrichtung der evangelischen Kirche, geht von 6 000 Menschen aus, die auf der Straße leben und etwa 40 000 Wohnungslosen, also jenen, die keine Adresse haben, aber zum Beispiel bei Freunden unterkommen oder Couchsurfing machen.

Veronika betritt die Halle. Es ist warm, sie trägt einen dünnen grünen Pulli, ein bisschen Goldschmuck. Jeder, der in die Unterkunft möchte, muss sein Gepäck abgeben und sich abtasten lassen. Dafür gibt es Bettzeug, ein Handtuch, bei Bedarf auch Shampoo. Und wer will, kann heute das Bewerbungstraining mitmachen. So etwas gab es hier noch nie.

Veronika wusste nichts von der Aktion, sitzt aber jetzt an einem Tisch, ihr gegenüber zwei Mitarbeiter vom "Job Point Neukölln", einer Berufsvermittlung für die ganze Stadt. Veronika sucht Arbeit seit sie vor drei Monaten aus Lettland hierhergekommen ist. Bisher hat sie als Küchenhilfe gearbeitet. Aber das Geld reichte nicht. Nun hat sie sich zusammen mit ihrem Mann nach Deutschland aufgemacht.

Beratungsstelle, Schminkstudio, Frisiersalon, Fotostudio: Das alles ist die Berliner Obdachlosenunterkunft an diesem Abend. (Foto: Jan-Erik Nord/Berliner Stadtmission)

Doch die Jobsuche ohne Deutschkenntnisse ist nicht einfach. "Kein Deutsch? English?", fragt Berufsberaterin Denise Wegner. Veronika schüttelt den Kopf: "a little". Wegner berät sich kurz mit ihrem Kollegen. "So kann man eigentlich fast nichts machen", sagt er. "Ein Arbeitgeber muss sicher sein, dass seine Anweisungen verstanden werden, sonst geht er ein hohes Risiko ein." Es geht ein bisschen hin und her. Dmitrij, ein Ehrenamtlicher, übersetzt aus dem Russischen. "Callcenter vielleicht?" Veronika sagt: "Putzen geht auch." Denise Wegner hat eine Idee. "Es gibt da eine Reinigungsfirma, die auch Menschen ohne Deutschkenntnisse einstellt."

Am Nachbartisch sitzt seit etwa einer halben Stunde Justyna und lässt sich von Sarah beraten. Beide tippen in einen Onlineübersetzer Fragen und Antworten ein. Ob sie eine Ausbildung und Berufserfahrung habe, will Sarah wissen. Justyna, so stellt sich heraus, hat in ihrer Heimat Polen eine Lehre als Schneiderin gemacht und neun Jahre Berufserfahrung als Reinigungskraft. "Möchtest du als Schneiderin arbeiten?", tippt Sarah in den Übersetzer. "Nein, nein, nein", antwortet Justyna und schüttelt energisch ihren Kopf. Also schreiben sie jetzt auch ihr eine Bewerbung für eine Stelle als Reinigungskraft.

"Manche haben vergessen, welche Fähigkeiten sie haben"

Ein bisschen abseits vom Geschehen schaut Jana Grösche zu. Die Sozialarbeiterin der Stadtmission berät hier viermal in der Woche Wohnungslose, bei Arbeitslosengeld-II-Anträgen etwa. Sie hat es erreicht, dass sich heute zehn Ehrenamtliche an fünf Stationen um die Gäste kümmern. Die Ehrenamtlichen helfen nicht nur beim Lebenslauf, sie schneiden den Gästen auch die Haare oder schminken sie ein wenig für die Bewerbungsfotos. Und sie geben ihnen auch ein bisschen Hoffnung. "Manche haben vergessen, welche Fähigkeiten sie haben", sagt Grösche. Viele Obdachlose fänden gar nicht erst den Weg zum Jobcenter. Sozialämter sollten eigentlich mal Streetworker losschicken, findet sie, um zu sehen, wie das ist, wenn man "mit offener Psychose in Berlin auf der Straße lebt". Aber "das System" verlange, dass die Suchenden selbst kommen müssten. "Deswegen kommt jetzt mal das System zu ihnen."

Anfangs läuft es noch schleppend, dann trauen sich immer mehr Gäste an die Tische. David aus Portugal etwa möchte als Kellner arbeiten, Andrea aus Brandenburg wieder als Bürokauffrau - und ihr Alkoholproblem anpacken. Am Ende stehen neun Bewerbungsprofile auf der neu eingerichteten Jobseite der Stadtmission, manche Gäste haben gleich mehrere Bewerbungen per E-Mail losgeschickt. Das Training war ein Erfolg. Es soll bald wiederholt werden.

Gegen 22 Uhr dann sitzt Veronika neben ihrem Mann auf einer Bank. Sie wirkt müde und abgekämpft, schaut ins Leere. Was sie sich jetzt wünscht? "Eine Arbeit. Am liebsten in Lettland. Weißt du, unsere Tochter ist zehn und geht dort zur Schule."

© SZ vom 17.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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