Stimmt wohl. Der Mann hatte kürzlich eine Rücken-OP. Folge eines Autounfalls im August. Aber hätten seine Mitarbeiter in Manhattan nicht einen anderen Rollator auftreiben können? Die Dinger kosten gerade mal 70 Dollar, haben dann aber vier funktionierende Räder und sind nicht hergestellt aus verbogenen Altmetallresten. Die Stütze, die Harvey Weinstein vor sich herschob, als er Ende vergangener Woche schleppenden Schrittes aus dem Gericht kam, wirkte eher wie das Requisit eines Obdachlosen, mit wackeligen Rollen vorne und aufgeschnittenen Tennisbällen an den hinteren Beinen. Dazu der abgerissene, blasse Look - so sehen Gejagte aus. Die amerikanische Regenbogenpresse veröffentlichte kurz danach Fotos und Filmaufnahmen, die Weinstein abends auf einem Parkplatz zeigen sollen, ganz ohne Gehhilfe.
Das ist das Eine: Die Gerichtsgänge des angeklagten Filmproduzenten und die wilden Spekulationen darum, inwieweit das alles ausschließlich mitleiderregende Inszenierung ist, der einstige brutale Mogul als armer Alter, wehr- und kraftlos. Geradezu in schrillem Kontrast zu diesem siechen Erscheinungsbild steht aber ein Interview, das er der New York Post gab, in seinem Krankenzimmer, am Tag nach der Operation. Die Post schreibt, Weinstein habe in das Gespräch eingewilligt, um zu beweisen, dass er seine körperliche Schwäche nicht simuliere. Mit diesem Aspekt hielt er sich aber nicht allzu lange auf. Stattdessen klagte er darüber, dass er ein "vergessener Mann" sei, der dringend in Erinnerung bleiben sollte für alles, was er für die Rechte der Frauen getan habe.
"Wenn es um Frauen geht, verdiene ich anerkennendes Schulterklopfen", sagte Weinstein. Er habe mehr für die Frauenförderung getan als irgendjemand sonst. "Ich habe mehr Filme produziert, bei denen Frauen Regie geführt haben und die sich um Frauenschicksale drehten, als jeder andere. Und ich spreche da über die Zeit vor 30 Jahren. Heute ist das in Mode. Aber ich habe das als Erster gemacht, ich war der Pionier." Namentlich erwähnte er Gwyneth Paltrow, die 2003 zehn Millionen Dollar Gage für ihre Rolle in "View from the Top" bekommen habe und damit weit mehr als all ihre männlichen Kollegen.
Weinstein werden Vergewaltigung, kriminelle sexuelle Handlungen und räuberische sexuelle Übergriffe vorgeworfen
Nun könnte man sagen, Filmproduzenten müssen keinen wissenschaftlich genauen Blick auf die Wirklichkeit haben, sondern nur einen sicheren Instinkt für die griffige Geschichte. Aber eine derart wuchtige Form der Realitätsverschiebung ist tatsächlich beeindruckend. Weinsteins Prozess soll am 6. Januar beginnen. Ihm werden in dem Verfahren von zwei Frauen Vergewaltigung, kriminelle sexuelle Handlungen und räuberische sexuelle Übergriffe vorgeworfen.
Mehr als 80 Frauen haben ihn sexuellen Fehlverhaltens beschuldigt - darunter übrigens auch Gwyneth Paltrow, obwohl er sie 2003 doch so außerordentlich gut bezahlt hat. Weinstein streitet alle Vorwürfe rundum ab, hat sich aber anscheinend mittlerweile zu Entschädigungszahlungen von insgesamt 25 Millionen Dollar an mehr als 30 Anklägerinnen bereit erklärt. Gezahlt wird das von der Versicherung seiner bankrotten Firma - was nur konsequent ist, er selbst scheint sich ja mittlerweile nicht mal mehr einen anständigen Rollator leisten zu können.
Als Antwort auf das Post-Interview veröffentlichten 23 Frauen, darunter Rosanna Arquette, Rose McGowan und Ashley Judd, ein Statement, in dem sie Weinstein vorwarfen, "die Öffentlichkeit einmal mehr hinters Licht zu führen." Weinstein beklage sich, er wolle nicht vergessen werden. "Nun, das wird er nicht. Man wird sich an ihn erinnern als sexuelles Raubtier und als reuelosen Missbrauchstäter, der sich alles genommen hat und der nichts verdient", schrieben sie. Sollte er verurteilt werden, droht ihm lebenslange Haft.