Türkische Chronik (XXXIX):Das Tabu im Umgang mit den Kurden

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Der Verlag veröffentlichte wissenschaftliche Literatur wie die mehrbändigen Bücher des Genozidforschers Vahakn Dadrian, Vergine Svaslians Geschichten Überlebender, Franz Werfels "Die vierzig Tage des Musa Dagh", Wolfgang Gusts Dokumentensammlung des deutschen Auswärtigen Amts.

Die Veröffentlichungen forderten die Türkei massiv heraus, denn bis heute ist Verleugnung dort auf allen Ebenen die gängige Strategie. Je mehr Bücher Belge über ethnische Säuberungen während des Zusammenbruchs des Osmanischen Reichs veröffentlichte, desto massiver wurde der Verlag als Staatsfeind gebrandmarkt.

Der Tabubruch begann 1993 mit der Veröffentlichung von "Tabu Armenien. Geschichte eines Völkermordes" des französischen Historikers Yves Ternon. Es folgten Bücher über die Massaker an Aleviten in der Provinz Dersim und Werke von Georgios Andreadis über die Massenvernichtung von Griechen an der anatolischen Schwarzmeerküste.

"Daraufhin wurde Andreadis zur persona non grata erklärt. Sein Einreiseverbot dauerte über zwanzig Jahre bis zu seinem Tod." Yves Ternons Buch löste Entrüstung bei den Behörden und den extremen Rechten aus. Belge wurde immer weiter in die Isolation gedrängt. Die gesamte Linke ließ den Verlag im Stich. Laut Zarakolu war die fehlende Solidarität sehr schmerzhaft.

"Wenn man ein Menschenrechtsaktivist ist und die UN-Menschenrechtscharta gelesen hat, ist es eine Schande, nicht tätig zu werden", sagt Zarakolu, wenn man ihn nach seinem hartnäckigen Engagement befragt. "Für uns war es nie hinnehmbar, dass der Genozid an den Armeniern ein Tabu ist. Einige Intellektuelle bezichtigten einen auch der Besessenheit oder Weinerlichkeit, wenn man das Thema erwähnte. Für die Linken, unter ihnen sogar Armenier, war die Zukunft viel wichtiger."

Belge brach noch ein weiteres Tabu, die Immunität des Militärs, der Verlag veröffentlichte einen Bericht der Human Rights Watch über die Gräueltaten in kurdischen Dörfern in den Neunzigerjahren. "Wir zahlten einen hohen Preis dafür, aber bekamen vor dem Europäischen Gerichtshof recht. Belge half dabei, das Tabu im Umgang mit den Kurden zu brechen."

Jedes Gericht kann jedes Buch beschlagnahmen lassen - wie unter der Militärdiktatur

Belge sticht außerdem mit seinem Portfolio über die verlorene Geschichte asiatischer Minderheiten heraus. Eine unglaubliche Leistung, ein Ausdruck von intellektuellem Mut gegen alle Widrigkeiten - und ein stichhaltiger Grund, ins Kreuzfeuer zu geraten, sobald Gegenwind von Tyrannen weht. "Die Publikationsfreiheit ist in der Türkei gefährdet", schließt Ragıp.

"Seit dem letztjährigen Putschversuch wurden bereits 29 Verlage geschlossen und ihr Kapital beschlagnahmt. Das türkische Gesetz sieht eigentlich vor, dass Bücher, die nicht innerhalb eines bestimmten Zeitraums nach Erscheinen beschlagnahmt werden, Immunität erlangen und eine Anklage nicht mehr möglich ist. Jetzt kann jedes Gericht in der Türkei eine Beschlagnahmung anordnen. Dasselbe passierte während des Militärregimes in den Achtzigerjahren."

Er spricht leise weiter: "Ich befürchte, dass dieses Land niemals in der Lage sein wird, sich zum Besseren zu wenden. Das Glück suchen wir, das Unglück sucht uns."

Der Autor ist Journalist und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Sofia Glasl.

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