SZ-Serie: Die grüne Frage:Das Rennen ist offen

Mit dem Erfolg der Grünen schlägt die Stunde ihrer Kritiker: Sie seien pingelig im Detail und folgenlos im Ganzen. Doch wer die Weltveränderung im Großen gegen die im Kleinen ausspielt, hat schon verloren. Die alten Fortschrittsmodelle taugen nicht mehr.

Dieter Thomä

Mit dem Erfolg der Grünen, die sich vor Wählern kaum retten können, schlägt auch die Stunde ihrer Kritiker. Ein Vorwurf lautet: Die Grünen sind pingelig im Detail und folgenlos im Ganzen. Sie protestieren gern und sind doch Parasiten der Wohlstandsgesellschaft, die ihnen zuverlässig das Geld aufs Konto spült, das sie zum Bioladen tragen. Sie waschen ihre Hände in Unschuld, aber immer schön mit biologisch abbaubarer Seife. Sie wollen nicht wirklich etwas ändern, sondern nur ruhig schlafen.

Mülltonnen

Nehmen wir an, die Weltgeschichte schriebe einen Blog: Dann wollte der grüne Weltveränderer darin am Ende eines jeden Tages und bis in alle Zukunft den Satz lesen: Fortsetzung folgt. Wenn Menschen zu dieser Fortsetzung beitragen, dann ist kein Einsatz zu klein - und auch keine Mülltrennung zu mickrig.

(Foto: iStockphoto)

Kurz: Die Grünen tragen die Charaktermaske des Gutmenschen, während die Exportnation Deutschland mehr denn je davon profitiert und auch davon abhängt, dass sich das Luxury Fever (Robert Frank), also die Nachfrage nach hochpreisigen Statussymbolen, in immer mehr Ländern der Welt ausbreitet.

Wie will man im Kretschmann-"Ländle" und andernorts damit umgehen? "Ohne China müsste morgen die Phaeton-Produktion eingestellt werden", warnte kürzlich der Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Derzeit sieht es nach einer Arbeitsteilung aus, wonach unser Land tagein, tagaus seinen Beitrag zur herannahenden ökologischen Katastrophe leistet und gleichzeitig Gewissenskosmetik betreibt. Mit den Grünen ist vielleicht ein Staat zu machen, aber doch nicht die Welt zu verändern. Oder?

Zugegeben: Die Bemühungen der Mitglieder im Club der Mülltrennung und Schadstoffbegrenzung wirken ein bisschen kleinteilig. Die Lage schreit nach dem großen Wurf, nach der Weltveränderung im Hauruckverfahren. Nun ist dies natürlich leichter gesagt als getan - aber auch gesagt ist es nicht so leicht. Von Weltveränderung redet man nämlich nicht im luftleeren Raum, unweigerlich hat man dabei Leitbilder aus der Vergangenheit im Hinterkopf. Leitbilder können aber auch Altlasten sein.

Für Weltveränderung hat die jüngere Geschichte ein vorherrschendes Deutungsmuster parat: die Idee des Fortschritts. Von dieser Idee ist die moderne Gesellschaft bis heute geprägt - teilweise auch: besessen. Man muss kurz zurückblicken auf die klassische Theorie des Fortschritts, um zu sehen, wie das bekannte Repertoire der Weltveränderung aussieht. Kurzerhand kann man sagen, dass die Theorie des Fortschritts in drei Varianten aufgetreten ist; unterscheiden lassen sich diese Varianten danach, welche Werkzeuge sie verwendet haben: Schraubenzieher, Keil oder Pinsel.

Beim Schraubenzieher-Fortschritt heißt die Parole: Jeder Tag ist wie eine neue Umdrehung. Wir wissen wohin, wir haben einen Plan, wir arbeiten hart, wir bleiben dran. "Das Menschengeschlecht schreitet sicher und tüchtig auf dem Wege der Wahrheit, der Tugend und des Glücks vorwärts", so schrieb der Marquis de Condorcet 1794, kurz bevor ihn seine revolutionären "Brüder" in den Tod trieben.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum die alten Fortschrittsmodelle nichts mehr taugen.

Technokraten, Chiliasten, Utopisten

Daneben tritt ein Fortschritt, der mit dem Keil arbeitet. Mitte des 19. Jahrhunderts hat Alexis de Tocqueville eine unübertreffliche Beschreibung dafür geliefert: Demnach geht es darum, die "Geschichte sozusagen in zwei Teile zu spalten und durch eine tiefe Kluft das, was die Menschen bis dahin waren, von dem zu scheiden, was sie fortan sein wollten".

Schließlich gibt es noch den Pinsel-Fortschritt: Man malt sich eine Welt aus, in der alles glatt läuft; man meint, das Geheimnis dieser Harmonie enträtselt zu haben, und will eine Wunschwelt Wirklichkeit werden lassen. Ernst Bloch sprach in diesem Zusammenhang vom Entwurf eines "Glücksbaus", sah sich aber wohlgemerkt nicht als dessen Architekt.

Auch wenn die Fortschrittseuphorie längst gewichen ist, sind jene drei Modelle noch allgegenwärtig. Die Welt hat sich vielleicht verändert, nicht aber die Modelle der Weltveränderung - und das ist eigentlich kein gutes Zeichen. So gibt es weiterhin die Technokraten, die Schritt für Schritt einen Handlungsplan umsetzen und zu wissen vorgeben, wohin die Reise geht. Es gibt die Chiliasten, die eine Stunde Null einläuten und von einem Kraftakt schwärmen, mit dem alles schlagartig ganz anders werden soll. Und es gibt die Utopisten, deren Weltbild einem Traumbild gleicht.

Auch bei den Grünen treiben sich Vertreter all dieser Szenarien herum. Ich bezweifle aber, dass dieses Sammelsurium wirklich für das steht, was Weltveränderung in Grün bedeutet. Mehr noch: Ich glaube, dass jene drei alten Konzepte nicht mehr in die Welt passen, in der wir leben. Sie haben etwas gemeinsam, was gar nicht in die Zukunft führt, sondern eher nach hinten losgeht. Gemeinsam ist ihnen nämlich eine gewisse Selbstgefälligkeit oder Großmannssucht.

Man hat einen Plan, man fängt ganz neu an, man malt sich eine Welt aus - so oder so gefällt man sich darin, am Drücker zu sitzen, so oder so hat die zukünftige Welt etwas von einer Kopfgeburt.

Nichts hat sich in den letzten Jahrzehnten so verändert wie die Zukunft. Sie ist nicht mehr ein leeres Gefäß, das man auffüllt, sie gleicht nicht mehr einem unberührten Tiefschneehang, in den man erste Spuren legt. Unser Verhältnis zur Zukunft ist geprägt vom Wissen um Chancen und Risiken, es ist - altmodisch ausgedrückt - geleitet von der Sorge um die Schöpfung. Das Rennen ist offen, der Ausgang ist knapp.

Was heißt nun Weltveränderung in Grün? Sie orientiert sich am "Bewahren", und sie findet ihr Motto in Montaignes alter Maxime, es gehe darum, "keinen Mangel zu haben an den Dingen, deren man bedarf, und auch keinen Mangel an der großen Kunst, sich seiner Lage in glücklicher Zufriedenheit zu erfreuen". Angesetzt wird nicht bei einer Zukunft, die ganz anders werden soll, sondern bei Erfahrungen des Gelingens hier und jetzt. Und die Bedingung, die dieses Gelingen erfüllen muss, besteht darin, dass sie nicht auf Kosten künftigen Lebens erkauft ist. Nehmen wir an, die Weltgeschichte schriebe einen Blog: Dann wollte der grüne Weltveränderer darin am Ende eines jeden Tages und bis in alle Zukunft den Satz lesen: Fortsetzung folgt.

Wenn Menschen zu dieser Fortsetzung beitragen, dann ist kein Einsatz zu klein - und auch keine Mülltrennung zu mickrig. Wer die Weltveränderung im Großen gegen die Weltveränderung im Kleinen ausspielt, hat schon verloren. Und wenn hier vom "Bewahren" die Rede ist, dann heißt dies gerade nicht, dass man den Status quo verteidigt und das Bestehende abnickt. Dieses Bewahren ist schon deshalb nicht konservativ, weil es einen Lebens-Wandel auf allen Ebenen erfordert.

Der Autor ist Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen. Zuletzt veröffentlichte er das Buch "Väter. Eine moderne Heldengeschichte".

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