Oper:Elegant skelettiert

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In seinem Tod ist sie ihm nah: Rachael Wilson als Charlotte, Arturo Chacón-Cruz als Werther. (Foto: Philip Frowein)

Felix Rothenhäusler inszeniert mit Erfolg Jules Massenets "Werther" an der Staatsoper Stuttgart.

Von Egbert Tholl, Stuttgart

Vor der Staatsoper in Stuttgart liegt ein Knubbel. Der ist etwa vier Meter hoch und sechs Meter breit und besteht aus zusammengefaltetem Blech. Nun ist dies kein Kunstwerk, sondern das, was vom Dach des Hauses übrig blieb. Als vor zwei Wochen ein heftiges Gewitter über Stuttgart niederging, flog das Dach des Opernhauses davon und landete, zusammengeknüllt, auf dem Vorplatz. Während das Opernhaus selbst notdürftig abgedichtet ist, liegt nun dieser Knubbel da als Sinnbild dafür, dass die Renovierung des gründerzeitlichen Gebäudes doch wirklich nötig ist.

Nicht nur wegen der prognostiziert sehr teuren Renovierung steht das Opernhaus im Fokus des Stadtgeschehens. In der jüngeren Zeit wurde der Vorplatz wiederholt zu einem ausufernden Feierhotspot der Jugend, die auch in Stuttgart nicht weiß, wohin mit sich. Dazu gibt es bei der Premiere von Massenets "Werther" eine kleine Demonstration. Verlassen die Zuschauer in der Pause das Gebäude, müssen sie über einige Jugendliche hinwegsteigen, die sich, sehr artig und mit Maske, auf die Stufen des Opernhauses legen. Freundlich liegen sie da, okkupieren sacht einen Ort der Hochkultur, während sie keinen haben, wo sie ihre Musik hören können.

Maskenfreies Opernvergnügen

Da hat man es als Teil der Opern-Community leichter und kann, mit den üblichen Einschränkungen, zwei Stunden lang der Musik von Jules Massenet lauschen. Und zwar in aller Deutlichkeit, denn das Staatsorchester sitzt in vollkommen zufriedenstellender Größe auf der Bühne, davor steht Marc Piollet und erfreut sich am Rauschen und Wogen der Musik. Würde er aber deren Konturen prägnanter herausarbeiten, verbliebe diese nicht in einem ein bisschen pauschalen Abbild der Emotionen der Figuren, sondern könnte deren Innenleben plastischer untermalen. Doch klangschön ist es allemal.

Felix Rothenhäusler, Jahrgang 1981, hat Aufsehen erregt als neugieriger Schauspielregisseur. Als solcher ist er seit 2012 Hausregisseur in Bremen und begann dort vor einigen Jahren, sich auch mit Musiktheater zu beschäftigen. Auch mit dem "Werther". Tatsächlich inszenierte er Massenets Oper dort 2016; einiges von dem, was er damals machte, findet man in seiner Stuttgarter Inszenierung wieder. Doch die ist viel konsequenter und in vielerlei Hinsicht sehr gelungen.

Das Konzept ist radikal und hat mit möglichen Corona-Einschränkungen nichts zu tun. Als Erstes eliminiert Rothenhäusler alle Figuren, die nichts mit Werthers Gefühlen zu tun haben. Übrig bleiben dieser selbst, Charlotte, Sophie, Albert und der Vater der beiden Schwestern, der in Gestalt von Shigeo Ishino als eine Art Security-Mann agiert. Nicht mehr vorhanden sind beispielsweise die beiden fröhlichen Zecher, die stets "Vivat Bacchus" rufen, was nun die Oper deutlich verkürzt, ihr aber auch den komischen Ausgleich zu Werthers Dauergefühlsstrom nimmt, der jetzt fast ungehindert durchläuft.

Dann stellt Katharina Pia Schütz eine glatte, weiße, kreisrunde Fläche zwischen Orchester und Parkett. Sehr nah am Parkett. Rothenhäusler ist nicht der erste Regisseur, der so etwas macht - man denke an die legendär gewordene "Traviata" von Benedikt von Peter in Hannover, in der nur die Violetta auf der Bühne war, nah am Publikum, zwischen dem sich die anderen Solisten befanden. Solche Maßnahmen haben eine gesellschaftliche Dimension. Wenn man schon die Kurvatur eines altehrwürdigen Theaterbaus nicht ändern kann, so kann man doch den Repräsentationscharakter der Aufführung mildern. In Stuttgart gibt es nun keinen Graben, keine erhöhte Bühne, dafür die Möglichkeit der Teilhabe am Geschehen. Nicht von oben herab wird Kunst verkündet, sondern quasi aus dem Publikum heraus: Zu Beginn steht nur Werther auf der Spielfläche, aus den ersten, von echten Zuschauern befreiten Reihen, krabbelt der Kinderchor auf die Bühne, um das Weihnachtslied einzuüben. Später folgen die Solisten, von denen sich gerade Albert immer wieder in die Rolle des Zuschauers zurückzieht.

Arena der Gefühle

Das weiße Rund ist die Arena der Gefühle, ausweglos laufen darauf die Solisten im Kreis. In Massenets psychologisch nicht gerade differenzierter Oper gibt es auch keinen Ausweg. Arturo Chacón-Cruz steht in einem zu großen Sakko und mit einem Strauß Rosen in der Arena, ein empfindsamer Tropf, der so larmoyant beginnt, wie er dann sterben wird. Aber mit größtem Gefühl, mit der Egozentrik größten Gefühls, das er, mehr italienisch-kraftvoll als französisch-lyrisch, zur Maxime allen Daseins erhebt. Rachael Wilson gelingt es als Charlotte trefflich, die Ambivalenz ihrer Figur deutlich zu machen. Sie ringt mit Zuneigung und Pflicht, und man hört ihr ungeheuer gern dabei zu. Paweł Konik ist als Albert ein bisschen zu pauschal schlecht gelaunt, Aoife Gibney ist wundervoll. In ihrer Sophie geht das Regiekonzept völlig auf, sie spielt mit betörender Emphase. Einmal will sie Ordnung schaffen, will retten, was zu retten sein mag, stößt am Rande des Runds einen Seufzer aus, geht hoch - und scheitert dort mit all ihrer strahlenden Freundlichkeit. Am Ende stirbt Werther auf einem Berg aus Rosenblättern. Vielleicht war es doch richtig, dass die Staatsoper eingangs Taschentuchpäckchen verteilte.

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