Gibt es ein einfacheres, volkstümlicheres deutschsprachiges Gedicht als Joseph von Eichendorffs "Mondnacht"? Die Konkurrenz dürfte überschaubar sein. "Es war als hätt' der Himmel/ Die Erde still geküßt" - das klingt, als singe sich hier ein Liedchen selber, als sei es von jeher da gewesen. Doch diese eingängigsten aller Eichendorff-Verse waren ein Produkt intensiver künstlerischer Arbeit, die sich über mehrere Formulierungsversuche hinzog, bevor das Gedicht als Phönix aus der Buchstabenasche emporstieg. Die Berliner Staatsbibliothek stellt nun die Handschrift Eichendorffs in ihrem neuen Ausstellungsbereich aus und lässt den Betrachter ahnen, wie viel Mühe das scheinbar Unangestrengte einst gemacht hat, wie viel bewusster, artistischer Sachverstand nötig war, um das unfehlbar wirksame kleine Wunderwerk zu erzeugen.
Das neue, vor wenigen Tagen eröffnete "Kulturwerk" der Staatsbibliothek in ihrem Stammhaus Unter den Linden hat begründete Aussicht, bald zum schönsten Berliner Ausstellungsraum ernannt zu werden. Hier zeigt die 350 Jahre alte Institution in 356 Exponaten ihre Geschichte und das Wachsen ihrer Sammlungen. Sie tut das in einem schwarzen, heruntergekühlten Ausstellungsraum mit einer raffinierten Vitrinenarchitektur voller verlockender Sichtachsen. Die Ausstellungsstücke sind mit Ministrahlern von maximal 50 Lux aus dem allgemeinen Düster gehoben, in einer Inszenierungsform, die zuerst im Literaturarchiv Marbach erprobt worden war.
Man steht hier an den Quellen unermesslich wirksamer Geistestaten
Sie hat nicht nur den Vorteil der Augen- und Objektschonung, sie erlaubt dem Betrachter auch, sich mit jedem Ausstellungsstück von neuem konzentriert zu vereinzeln. Wenn nicht lautes Stimmengewirr oder ein didaktisches Erklärvideo die Ruhe stören, wird ein einzigartig intensiver Austausch mit schier unglaublichen Schätzen möglich. Bei der Ruhe, das zeigen schon die ersten Tage, dürfen die "Stabi" und ihr Wachpersonal noch etwas besser werden, denn großer, verdienter Zuspruch vom Publikum ist zu erwarten. Man kann viele Stunden in diesem gekühlten Schatzhaus verbringen, was bei allfälligen Hitzewellen doppelt attraktiv scheint.
Der Parcours kombiniert längs eines Mittelgangs die Institutionengeschichte (rechts), die von der kurfürstlichen Privatsammlung im Residenzschloss zur modernen Forschungs- und Studienbibliothek an zwei Standorten reicht, mit der Geschichte der Sammlungen (links), die sich immer differenzierter ausfalten und alle möglichen Schrift- und Bild- und Tonmedien umfassen.
Altorientalische und mittelalterliche Handschriften, die Reisewerke Alexander von Humboldts und Karl Richard Lepsius' zeigen sich in farbigen Riesenfolianten, das für Goethes "Divan" so wichtige Buch Kabus erscheint als deutsche Erstausgabe und als persische Handschrift, samt den Unterlagen des Übersetzers Friedrich Heinrich von Diez. Man sieht die Erstausgabe von Webers "Freischütz" neben dem Theaterzettel der Uraufführung und - auf Zeit in einer Wechselausstellung am Ende - die Handschrift der h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach. Man steht also wirklich an den Quellen unermesslich wirksamer Geistestaten.
Katalogzettel und Benutzungsordnungen veranschaulichen den Alltagsbetrieb für ein berühmtes und unberühmtes Publikum, eingeschlossen die großen Namen der Berliner Wissenschaften von Schleiermacher bis Einstein, von Mommsen zu Harnack. Je länger, desto mehr dringt Politik in die Sammlungen, Zeichnungen und Flugblätter der Revolutionen seit 1848, sehr militaristische farbige Kinderbücher aus dem Ersten Weltkrieg, linksradikale Untergrunddrucke um 1968. Ergreifend der farbige Zeitungsband von Überlebenden des Holocaust in Bergen-Belsen: "Unsere Verwüstungen in Bildern" lautete in jiddischer Sprache der Titel der Sondernummer des "Wochnblats" von 1946.
Die Bibliothek bewahrt nicht nur die Zeugnisse der Unheilsgeschichte, sie war unmittelbar darin verwickelt
Der ebenerdige Ausstellungsbereich läuft auf eine Treppe zu, die in eine unterirdisch gelegene "Schatzkammer" für Wechselausstellungen besonders kostbarer und besonders verletzlicher Objekte führt. Dort ist derzeit neben der Bach-Handschrift auch der einzige illustrierte Codex des Nibelungenlieds aus dem 15. Jahrhundert zu sehen, einer von fünf Pergamentdrucken der Gutenberg-Bibel und Daguerreotypien von 1850, kleine, individuell gerahmte Unikate, die gestochen scharfe Porträts unbekannter Damen und Herren zeigen.
Oben soll es in weiteren Räumen thematische Wechselausstellungen geben, demnächst, passend zu Berlin, eine Schau zu E.T.A. Hoffmann, dessen Todestag sich gerade zum 200. Mal jährte. Es geht also keineswegs nur um die Geschichte von Wissenschaft und Forschung, die in Berlin schon Stoff genug böte. Die Bezüge zur städtischen Gesellschaft, den Leserinnen und Schreibenden, kommen ebenso in den Blick. Bezaubernd ist das Gästebuch des Ehepaars Rahel und Karl August Varnhagen, in dem die Visitenkarten der Gäste als unregelmäßig zurechtgeschnippelte Bricolage eingeklebt wurden: Dr. F. Schleiermacher neben Felix Mendelssohn-Bartholdy unter Octavio Graf zur Lippe, an Le Baron Charles d'Arnim, der über Professor Steffens klebt, alle in unterschiedlichen Farbstufen und Typographien, und irgendwo auf der Seite stolz ohne Titel: Alexander von Humboldt. Was mögen an diesen Abenden für Gespräche geführt worden sein!
Die Schau verzichtet selbstredend nicht auf Sammlungsaufkauf und Sammlungsraub. Von Juden requirierte Bibliotheken wurden im Zweiten Weltkrieg mittels langer Listen zur Auffüllung von Lücken herangezogen; die große Bibliothek bewahrt nicht nur die Zeugnisse der Unheilsgeschichte, sie war unmittelbar darin verwickelt. Neben der frühen Beschäftigung mit hebräischer Sprache und jüdischer Kultur steht der Versuch ihrer Auslöschung.
Durch den Zweiten Weltkrieg geriet das Haus mit seinen Beständen selbst in Gefahr: Auslagerungen an Dutzende unterschiedliche Orte, die Teilung in zwei Häuser mit zwei Beständen wirken bis heute nach. Teile der Sammlung Varnhagen liegen bis heute in Krakau. All das wird klug und auch "niedrigschwellig", wie es die programmatischen Erklärungen zur Eröffnung versprechen, gezeigt - und Gott sei Dank doch auch so, dass man beim Erklimmen höherer Stufen zu genauerem Studium unterstützt wird, etwa durch digitale Vernetzungen in I-Pads. Zwischen animiertem eiligen Naschen und stundenlanger Versenkung ist hier alles möglich.
Staatsbibliothek zu Berlin, Unter den Linden, Dienstag bis Sonntag 10-18 Uhr, Donnerstag bis 20 Uhr. www.stabi-kulturwerk.de