Kino:"Eine der dunkelsten Städte der Welt"

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Das Wohnmobil der Familie hilft beim Trip nach Europa: Stéphane Bak und Fionn Whitehead (rechts) in „Roads“. (Foto: Studiocanal)

Nach "Victoria" bringt Sebastian Schipper in "Roads" Flüchtlinge und Helfer in Calais auf die Leinwand. Ein Setbesuch.

Von Tobias Kniebe

Der hohe Norden Frankreichs gilt bösen Beobachtern als Mutterland der Tristesse, und an diesem grauen Morgen macht er seinem Ruf mal wieder alle Ehre. Ein buschiger Grünstreifen, eingezwängt am Ende einer Sackgasse. Links die Böschung der Autobahn Calais-Dünkirchen, rechts ein menschenleeres Industriegebiet, dazu ein arbeitsloser Windkraftpropeller vor tief hängenden Wolken. Sebastian Schipper, eine herbstlich braune Wollmütze auf dem Kopf, betrachtet zufrieden den Bildausschnitt seiner Kamera. Genauso muss es sein, am Ende einer langen Reise, die nicht mehr weitergeht.

Dann erwacht, auf den Ruf seines Regieassistenten hin, die Ödnis zum Leben. Etwa 150 Flüchtlinge aller Hauttöne und Herkunftsländer strömen aus den Büschen und versammeln sich zu Warteschlangen, Kleinbusse öffnen ihre Schiebetüren, und junge europäische Aktivisten beginnen mit der Verteilung ihrer Gaben: warmes Essen aus großen Töpfen, Secondhand-Kleidung, Schuhe, Schlafsäcke. Eine nachgestellte Szene, die aber eins zu eins die Wirklichkeit abbildet, die bizarre politische Realitätsverleugnung rund um die Stadt Calais im Herbst 2017.

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Die Aktivisten im Bild sind keine Schauspieler, sie organisieren solche Spendenverteilungen im Niemandsland tatsächlich jeden Tag. Auch die wartenden Migranten wissen, wie es läuft, aber sie gehören zu jenen, die es schon irgendwie geschafft haben. Ihre amtlichen Dokumente erlauben es ihnen zu arbeiten, anders als jene, die sie heute darstellen. So sind sie als Statisten in Sebastian Schippers Film "Roads" gelandet, der als Roadmovie über zwei Teenager begann, seine Schauplätze in der Wirklichkeit suchte und schließlich in der Gegenwart der europäischen Flüchtlingskrise ankam. "Roads" feierte am Donnerstag Premiere auf dem Tribeca-Filmfestival in New York und startet Ende Mai in den deutschen Kinos.

Die Geschichte des Films, Schippers neues Projekt nach dem aufsehenerregendem One-Take-Überfall "Victoria", begann als eine Studie über Jungsfreundschaft, wie viele seiner Geschichten. Nur diesmal stand alles unter dem Eindruck der Nachrichten aus den Wirren der neuen Flüchtlingsbewegungen. Der 18-jährige William aus dem Kongo plant den Trip übers Mittelmeer, um in Frankreich seinen verschollenen Bruder zu suchen. In Marokko trifft er auf den gleichaltrigen Briten Gyllen, der im Wohnmobil seines Stiefvaters dem Familienurlaub entflohen ist. Dann geht es gemeinsam, durch viele Verwicklungen, bis nach Calais.

Die Gefahr solcher Geschichten ist, dass man immer das Konstrukt in ihnen spürt, die gewollten Kontraste zwischen Schwarz und Weiß, zwischen der Getriebenheit des mittellosen Afrikaners und der Verlorenheit des Wohlstandskindes. Deshalb suchte Schipper die Konfrontation mit der Wirklichkeit: "Viel zu spät eigentlich, denn ich hatte auch Angst davor." Er ging nach Calais, recherchierte in Marokko, beschloss, in den realen Ländern zu drehen, real mit den Darstellern auf der Fähre übers Mittelmeer zu fahren: etwa hundert Motive, immer "on the road". So steht er jetzt am Set, ganz der Fahrensmann: Kapuzenshirt, dicke Jeansjacke, Funkgerät an den Gürtel gehängt. Das Drehbuch, erzählt er, habe sich ständig verändert, immer mehr den wirklichen Gegebenheiten angepasst.

Calais im Herbst 2017: Die Stadtverwaltung tut alles, um diese Träumer zu verjagen

So treffen seine Helden nun an einem der letzten Drehtage auf die Situation in Calais, so wie sie sich im Herbst 2017 tatsächlich darstellt. Der Produzent David Keitsch erzählt davon. Rund um die Stadt warten immer noch Hunderte Geflüchtete, die vom Endziel Großbritannien träumen, obwohl der Zugang zu Fähren und Eurotunnelzügen inzwischen strengstens bewacht ist, kaum noch einer durchkommt. Die Verstecke, etwa im Radkasten von Lastwagen, sind zudem hochgefährlich, es gibt immer wieder Tote. Die Stadtverwaltung wiederum tut alles, um diese Träumer zu verjagen und zu verteilen: Hat ihr Slumlager, den sogenannten Dschungel, niedergewalzt und sie in die Wälder gejagt, nimmt ihnen durch die Polizei jeden Tag Zelte, Schlafsäcke und Turnschuhe ab, hofft auf den Hunger, der sie vertreiben wird. "Calais", sagt Sebastian Schipper, "ist im Augenblick eine der dunkelsten Städte der Welt."

Die Gegenbewegung, das gelebte Nein aller Andersdenkenden, das aus solch bürokratischer Härte erwächst, ist aber ebenfalls mächtig und vital - das kann man an diesem Tag sehr gut studieren. Junge Freiwillige aus ganz Europa haben sich generalstabsmäßig organisiert, ihr Hauptquartier ist in einer riesigen, alten Lagerhalle, die sie "Warehouse" nennen. Hier gehen Schuh- und Kleiderspenden ein und werden auf täglichen Ausfahrten verteilt, hier werden bis zu 3000 Mahlzeiten am Tag gekocht und buchstäblich in die Wälder gefahren, wo die Flüchtlinge an bekannten Treffpunkten schon warten. Klare Hierarchien unter den Helfern gibt es nicht, dafür aber die Autorität der alten Hasen. Sylvain Marty aus Calais, Mitte zwanzig, strähnige Jungsfrisur, ist schon mehr als zwei Jahre dabei - viele halten nur Wochen oder Monate durch. Eigentlich ist er DJ, als Sylvain de Saturne, aber dazu kommt er kaum, im Moment arbeitet er rund um die Uhr für die Flüchtlinge, tiefe Augenringe zeugen davon.

Er findet es gut, dass jetzt ein Spielfilm die reale Situation in Calais zeigen will, dafür ist er mit seinem Team gern dabei. "Die Arbeit ist hart, denn die Gestrandeten sind verzweifelt und angespannt, was auch sonst", sagt er. Und wie ein Echo seiner Worte bricht unter einer Gruppe Geflüchteter in einer Drehpause Gebrüll aus, Männerkörper verkeilen sich, es droht eine Messerstecherei, bis andere sich dazwischenwerfen. Da muss Sylvain gleich hin, als einer, der schlichten kann, den sie alle kennen und respektieren.

Einfache Lösungen? "Sorry, aber die gibt es nicht", sagt Schipper

In die Schlangen vor den Helferbussen mischen sich, für den nächsten Take, nun Stéphane Bak und Fionn Whitehead. Sie spielen die Hauptfiguren, William und Gyllen, auf der Suche nach Williams Bruder. Bak ist ein Nachwuchsstar aus Frankreich, bereits als Teenager hatte er eine erfolgreiche Stand-up-Comedy-Show, jetzt macht er sich ernst auf den Weg zur Filmkarriere. Seine Vorfahren, sagt er, kommen wirklich aus dem Kongo. "Jemand mit meiner Herkunft sollte es eigentlich besser wissen", erzählt er. "Aber auch ich musste erst mal diese Flüchtlinge mit eigenen Augen sehen, um ihre Lage zu begreifen, ihren Schmerz wirklich zu spüren."

Der 21-jährige Engländer Fionn Whitehead wiederum zeigt die verspielte Lässigkeit eines jungen Mannes, der schon weiß, dass große Dinge auf ihn warten. Christopher Nolan hatte sein schmal geschnittenes Jungsgesicht als Ankerpunkt ausgewählt, um die Zuschauer durch den Bombenhagel seines Schlachtengemäldes "Dunkirk" zu führen. Jetzt ist Whitehead der männliche britische Shootingstar. Sebastian Schipper hatte ihn allerdings schon vorher entdeckt, mit der ironischen Pointe, dass Whitehead nun schon wieder nahe Dünkirchen dreht, wo er mit Nolan acht Wochen lang den Zweiten Weltkrieg nachgestellt hat. "Die Atmosphäre hier ist wirklich niederdrückend", sagt er. Befreiend findet er allerdings die Offenheit seines Regisseurs. "Ich bin ein junger Typ aus England, genau wie im Drehbuch", sagt er. "Sebastian ist das natürlich nicht. Genau deshalb gibt er mir beim Spielen sehr viel Freiheit."

Als die Dämmerung kommt und die letzte Klappe des Tages geschlagen ist, reflektiert Sebastian Schipper über seine ganz persönliche Reise bei diesem Projekt. "Man denkt von ferne gern, es müsste doch einfach Lösungen für die Flüchtlingsfrage geben", sagt er. "Dann konfrontiert man sich mit den Verwicklungen der Wirklichkeit und merkt: Sorry, aber die gibt es nicht." Die Linke, sagt er, habe in diesen Dingen genauso eine Sehnsucht nach Schwarz-Weiß-Malerei wie die Gegenseite, aber diese Sicherheit des Weltbilds werde man in seinem fertigen Film nicht finden: "Es läuft auf keine These hinaus", sagt er. "Außer dass wir zusammenhalten müssen. Im konkreten Fall, in konkreten Situationen - eben wie meine Hauptfiguren."

© SZ vom 27.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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