Kino:Viel mehr als nur böse

Rainer Bock spielte sein halbes Leben lang Theater und drehte auch mit Hollywood-Regisseuren. Nun ist der Münchner in seiner ersten Kinohauptrolle zu sehen: Im Drama "Atlas" gibt er einen wortkargen Möbelpacker, wofür er für den Deutschen Filmpreis nominiert ist

Von Josef Grübl

Achtung, dieser Mann kann Frauen zum Weinen bringen - und Männer zum Zittern. Er lässt Hollywood-Regisseure schwärmen - und deutsche Stars erblassen. Doch bei der ersten Begegnung entschuldigt er sich. Natürlich nicht für seine Rollen: Er spielte beängstigend intensiv in "Das weiße Band", überzeugte als Stasi-Offizier in "Barbara", als General in "Inglourious Basterds" oder als Staatsanwalt im aktuellen Elyas-M'Barek-Starvehikel "Der Fall Collini". Nein, die Entschuldigung hat einen anderen Grund: Rainer Bock hat sich verspätet, um vier Minuten zwar nur, unangenehm ist es ihm trotzdem. München ist an diesem Aprilmorgen voller als sonst, die Bauma-Besucher sind überall in der Stadt unterwegs, da kommt man langsamer von einem Ort zum anderen. Bock wohnt in Neuhausen, als Treffpunkt für das Zeitungsgespräch hat er das Café im Literaturhaus vorgeschlagen. Hier konnte man ihn schon mehrfach bei Lesungen erleben, nur wenige hundert Meter entfernt hat er auch gearbeitet. Bevor er zum international gefragten Film- und Serienschauspieler wurde, spielte Bock sein halbes Leben lang Theater, in Heidelberg, Mannheim und Stuttgart, zuletzt auf der Bühne des Residenztheaters. Er war beim Publikum beliebt, arbeitete regelmäßig mit Regisseuren wie Dieter Dorn, Tina Lanik oder Elmar Goerden zusammen. Doch dann kam ein neuer Intendant, und Bock musste gehen. Das war 2011 und ein Schock für ihn. Aber lange her, da gäbe es nicht mehr viel zu bereden, sagt er. Zumal sich durch den Jobverlust neue Möglichkeiten ergaben: Er war nun frei und konnte so viel drehen wie er wollte. Genau genommen musste er das auch, schließlich hat der gebürtige Kieler Familie und lebt in München zur Miete. Wer da nicht regelmäßig für finanziellen Nachschub sorgt, hat bald ein Problem.

Also stellte er sich um, las eifrig Drehbücher, ging zu Castings, drehte Bewerbungsvideos und bereitete sich selbst auf kleinste Rollen sorgfältig vor: Für einen Schauspieler, der vor seinem 50. Geburtstag so gut wie nie vor der Kamera stand, eine völlig neue Erfahrung. Die wohl wichtigste Rolle seiner Karriere spielte er vor zehn Jahren, im bereits erwähnten Michael-Haneke-Film "Das weiße Band". Ja, sagt er, die Rolle des kaltherzigen Dorfarztes, der seine Tochter missbraucht und die Geliebte demütigt, sei sein Durchbruch im Kino gewesen. Der Film gewann die Goldene Palme in Cannes, wurde weltweit verkauft und sei von allen wichtigen Menschen in der Branche gesehen worden. Danach kamen Regisseure wie Steven Spielberg ("Die Gefährten"), Brian De Palma ("Passion"), Anton Corbijn ("A Most Wanted Man") oder Patty Jenkins ("Wonder Woman") und wollten mit ihm arbeiten.

Atlas Film

Ein Schauspieler, der mit kleinsten Nuancen viel erzählt: Rainer Bock in David Nawraths Film "Atlas".

(Foto: Tobias von dem Borne/235 Film)

Rainer Bock wird oft angefragt, wenn intellektuelle Bösewichte zu besetzen sind - oder böse Intellektuelle. "Als Schauspieler wird man oft festgelegt", sagt er, "Schubladendenken ist keine Erfindung, sondern Realität". Daher rechnete er sich zunächst auch kaum Chancen aus, als man ihn zum Casting des Kinodramas "Atlas" einlud. Die Rolle eines wortkargen Möbelpackers und ehemaligen Gewichthebers verbindet man nicht unbedingt mit dem eloquenten Schauspieler, der sich selbst als "leicht verfettet und untermuskulär" beschreibt. Doch dem Regisseur waren andere Dinge wichtig: "Er hat die Figur sofort verstanden", sagt David Nawrath. Bock sei ein Schauspieler, "der mit kleinstem Spiel sehr viel erzählen kann." Und so kam es, dass dieser im Alter von 64 Jahren seine erste Kinohauptrolle spielt.

"Atlas" hatte bei den Hofer Filmtagen Premiere, jetzt läuft das hochgelobte Drama in den deutschen Kinos an. Der Anfang ist brutal, da beschreibt der Film den ultimativen Albtraum jedes Mieters im Jahr 2019: Es klingelt an der Tür, draußen stehen grantig dreinschauende Männer mit Tragegurten, unter ihnen auch Bock. Sein Kollege hat einen Räumungsbescheid dabei, sie würden dann mal loslegen, sagt er zum verdutzten Wohnungsinhaber. Es geht um Entmietung und Wohnraumvernichtung in Großstädten, um Immobilienhaie, die heruntergekommene Häuser kaufen, räumen, renovieren und teuer weiterverkaufen. Zum Glück ist es aber kein Themenfilm, wie sie in deutschen Fernsehredaktionen oft ersonnen werden, frei nach dem Motto: "Lasst uns doch etwas über Gentrifizierung machen."

Rainer Bock hat sich zwar monatelang im Fitnessstudio auf die Rolle vorbereitet und schleppt vor der Kamera Möbelstücke, als ob er das schon sein ganzes Leben lang machen würde. Gleichzeitig weiß er aber auch, dass die Mietgeschichte bloß den Hintergrund bildet für etwas anderes. "Das ist nur die Folie, auf der etwas über Zivilcourage erzählt wird", sagt er. Es gehe um Väter und Söhne, um Verantwortung und Mut. "Zivilcourage findet doch erst dann statt, wenn man etwas dafür aufgibt oder in Kauf nimmt. Sonst ist es keine." Nur Nein zu sagen, reiche eben nicht mehr. Da blitzt kurz seine eigene Vergangenheit durch, als er in den Achtzigerjahren in der Anti-Atomkraft-Bewegung aktiv war. Haltung ist ihm wichtig, um Haltung ringt auch der von ihm gespielte Walter in "Atlas". Bock wurde als bester Hauptdarsteller für den Deutschen Filmpreis nominiert, Anfang Mai findet die Verleihung in Berlin statt. Es ist schon seine dritte Nominierung, nach "Das weiße Band" und dem etwas untergegangenen Episodenfilm "Einsamkeit und Sex und Mitleid". Auch darin spielte er keinen kalten Machtmenschen, sondern einen Familienvater, der sich nach Nähe und Zärtlichkeit sehnt und diese bei einem anderen Mann sucht.

Seit einigen Jahren ist er auch als Serienschauspieler gefragt, er war in internationalen Produktionen wie "SS-GB", "Homeland" oder der vierten Staffel von "Better Call Saul" dabei, auch in der Neuauflage von "Das Boot" wirkte er mit. Aktuell dreht er in Prag und Wien die Netflix-Serie "Freud", da spielt er den deutsch-österreichischen Psychiater Theodor Meynert. Gut möglich, dass er darin wieder Frauen zum Weinen und Männer zum Zittern bringt. Gut zu wissen ist aber auch, dass Rainer Bock noch sehr viel mehr kann.

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