150. Geburtstag von Marcel Proust:Zu schön

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Die Kirche Saint Jacques in Illiers-Combray, in Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" heißt sie Saint Hilaire. (Foto: Jean-François Monier/AFP)

Rausradeln, Hörbuch hören, beglückt sein. Eine Proust-Erfahrung in Brandenburg.

Von Gustav Seibt

Marcel Prousts Romanwerk ist lang, verwickelt, ein Gebilde komplexester Bezüge, dessen Bewältigung wenigstens vorübergehend vorauszusetzen scheint, was seinem Verfasser gegönnt war: ein Leben ohne sonstige profane Pflichten und materielle Sorgen. So haben wir es jetzt in vielen Artikeln zum 150. Geburtstag gelesen, und niemand kann das bezweifeln.

Doch man kann sich seinem Text auch überlassen, sich von ihm treiben und in ihn hineinziehen lassen, nicht nur bei stiller Lektüre, sondern auch beim Vorlesen, wie der Erfolg der Lesung von Peter Matić beweist, die man seit dem Frühjahr wieder Stück für Stück bei RBB Kultur hören kann. Solches Hören kann zu ganz eigenen Erfahrungen und Entdeckungen führen, von denen ein spontan aufgezeichnetes Tagebuchblatt einen Begriff geben mag.

Ich habe mir neulich auf dem Fahrrad, auf einer Tour in den immer menschenleerer werdenden Landschaftsraum östlich von Berlin, ein sehr schönes älteres Hörspielhörbuch nach Prousts "Combray", dem ersten Teil des Zyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", in der ganz ausgezeichneten Übersetzung von Michael Kleeberg mit Sylvester Groth, Juliane Köhler, Thomas Holtzmann und Doris Schade angehört (erschienen im Hörverlag), das nur zweieinhalb Stunden lang dauert, und doch alles das Berühmte enthält, von dem auch diejenigen Gerüchte kennen, die noch nie eine Zeile von Proust gelesen haben: die Laterna magica beim Einschlafen, die in den Lindenblütentee getunkte Madeleine, die Weißdornhecken, die beim Vorbeifahren ihre Plätze tauschenden Kirchtürme, die störrische Köchin Françoise, die Großmutter, Tante Léonie, Swann und das Gerede über ihn.

Besonders gefiel dem einsamen Radfahrer, dass in dem Hörbuch die langen, langen Sätze des Erzählers immer wieder auf zwei Stimmen verteilt wurden, so als gebe es da eine Staffelübergabe, eine freundliche Arbeitsteilung: Komm, gib her, ich mach weiter, wenn es dir zu lang und zu schwierig wird, wenn dir der Atem ausgeht. Diese Übergaben sind in dem wundervollen Hörbuch immer gut gesetzt, an einen Punkt, wenn ein Parallelismus, eins der riesig verzweigten So-Wies von Proust vom So zum Wie übergeht. Man könnte auch an ein Streichquartett denken, in dem die Geigen und Bratschen einander aufnehmen, melodische Phrasen wiederholen und weiterführen.

Der Wiederaufbau für die Außengastronomie vermischte sich mit dem Lob des Flüsschens Vivonne

Auch die geburtsähnliche Prozesshaftigkeit des Erinnerns, das langsame Heraufholen und dann ruckartige, schmerzhaft beglückende Ans-Licht-Treten der Erinnerungen Marcels an seine Kindheit, überhaupt die Körperlichkeit des Gedächtnisses - das wirkte durch diese Stimmwechsel besonders lebendig.

So radelte ich also gegen einen zunehmend anschwellenden, warmen und trockenen, laut ins Ohr brausenden Wind in meiner own private Proust-Blase, immer seliger und überwältigter von der frischen Schönheit - denn die letzte Lektüre von "Combray" liegt bei mir mehr als 25 Jahre zurück -, bis ich in die Nähe eines kleinen Bahnhofs gelangt war.

Ein Blick auf die Uhr und die Fahrplan-App belehrte mich, dass ich ziemlich genau die eine Stunde Zeit hätte, die auch noch im Hörbuch blieb, bis der nächste Zug käme. Da mir der Wind auf den fast kahlen Eiszeithöhen nördlich der Spree zu geräuschvoll geworden war, setzte ich mich zwischen einer alten Dorfkirche und einem Lokal namens "Erbkrug" hin, um weiter zu lauschen.

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Im "Erbkrug" nun wurde an jenem Samstag noch auf die Öffnung der Außengastronomie hingearbeitet, indem auf der Rückseite im Wirtsgarten schöne neue Holztische und -bänke, offensichtlich gerade vom Schreiner geliefert, aufgestellt wurden, ganz frisches, rötliches Holz. Dieses hoffnungsfrohe, zuversichtliche Arbeiten für das entbehrte und ersehnte Zusammensitzen im Freien vermischte sich gerade mit dem Lob des Flüsschens Vivonne, des Spazierwegs von Combray zu den Guermantes, mit der Schilderung der mittelalterlichen Kirchenportale und ihrer ländlichen Figurenphysiognomien - und auf einmal strahlte etwas von der Heimatromanschönheit, die "Combray" ja durchaus auch hat, auf die brandenburgische Backsteinkirche ab, auf den "Erbkrug" und seine geschäftigen Betreiber (die Wirtin, las ich später im Netz, ist eine Polin aus Masuren, die sich allerbesten Rufs erfreut und von der Gemeinde 2019 in einem Vorstellungsverfahren mehrheitlich ausgewählt wurde).

Ich setzte mich also in die Schaukel, um weiterzuhören und dabei einen Apfel zu essen

Die mittelalterliche märkische Dorfkirche ist natürlich viel schlichter als die des Städtchens Illiers-Combray, die ich vor ein paar Jahren besucht hatte, und sie hat selbstverständlich keine leuchtenden Glasfenster mit Heiligengeschichten - das endete im Lande Brandenburg schon 1525 mit der Reformation. Zwischen der Kirche und dem "Erbkrug" gibt es außer einem wagenradgroßen Baumstumpf auf einer Wiese auch nichts zum Hinsetzen. Aber es gibt dahinter einen Spielplatz mit Sand, Rutsche und Schaukel. Ich setzte mich also in die Schaukel, um weiterzuhören und dabei einen Apfel zu essen.

Und auf einmal begann ich zu schaukeln, immer weiter und selbstvergessen ausschwingend wie früher als Kind, als ich das liebte und halbe Stunden lang tat. Das harmonierte so vollkommen mit den langen Proust-Sätzen, mit dem Lob der Landschaft um die Vivonne, ja es steigerte das Gehörte so überzeugend, dass ich nicht mehr aufhören konnte. Das Schwingen dieser schier endlos langen Sätze hatte mich auch körperlich erreicht - im Zustand der angenehmen pulsierenden Durchblutung, die schon eine Stunde Radfahren erzeugt -, wie es sonst nur Epenverse mit ihrem Gleichmaß vermögen.

Wunderbarerweise kamen weder vom "Erbkrug" noch von einer kleinen Straßenbaustelle auf der Rückseite der Kirche, die von einem uralten grauen Hund bewacht wurde, der nur kurz den Kopf gereckt hatte, als ich vorgefahren war, befremdete Blicke, die Erstaunen über den erwachsenen Mann gezeigt hätten, der da eine geschlagene Stunde in der Kinderschaukel hing und auf und ab schwang.

Ach, ist das kitschig, fand ich im selben Moment, in dem mir die Merkwürdigkeit der Situation bewusst wurde. Andererseits hatte ich immer noch so viel zu tun, immer weiter den langen Sätzen zu folgen, die immer neuen Übergaben der Anschlüsse mit ihrem Betreten einer immer noch höheren Ebene mitzuvollziehen, dass die ästhetische Bedenklichkeit meiner eigenen Lage in diesem Moment gar kein Gewicht bekam, kein Fett ansetzen konnte. Sie blieb ein flüchtiger Schatten, der erst hinterher beim Aufschreiben eine gewisse Konsistenz annahm.

Immerhin war ich wach genug, um dann doch den Zug zurück nach Berlin zu erreichen. Die letzten Minuten, in denen der Ich-Erzähler Marcel das Glück der allerersten Autorschaft erfährt (auf einer Kutsche, also auch in Bewegung), habe ich im leeren Fahrradabteil des Regionalzugs aus Frankfurt an der Oder gehört.

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