150 Jahre Marcel Proust:Zwischen zwei Kriegen

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Ganze Kathedralen für die unwillkürliche Erinnerung erbaut hat Marcel Proust (1871-1922) mit den sieben Bänden des Romans "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit".

(Foto: imago/Leemage)

Am 10. Juli 1871 kam Marcel Proust auf die Welt. Er wurde der prägende Schriftsteller einer zugleich trägen und rasenden Epoche.

Von Lothar Müller

Plötzlich taucht Bismarck auf. Der Erzähler ist im dritten Band von Marcel Prousts Romanzyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" gegen Ende des Jahres 1897 zu Besuch bei seinem Freund Robert de Saint-Loup, der als Fähnrich in der Garnisonsstadt Doncières stationiert ist. Es wird dort auch Kriegsgeschichte gelehrt. Saint-Loup doziert über die klassischen Finten der Napoleonischen Kriege, über die Verbindung von Frontalangriff und Flankenstoß, über den Sieg Hannibals gegen die Römer bei Cannae als Modell der deutschen Generalität. Und er weiß auch den Grund, warum gegenwärtig in Frankreich die Defensive nicht im Zentrum der strategischen Doktrinen steht: "weil man nicht noch einmal in den Irrtum von Siebzig verfallen, sondern angreifen, nichts als angreifen will".

Ein militärischer Vorgesetzter Saint-Loups, der Rittmeister Fürst von Borodino, war 1870 Zeuge der französischen Kapitulation. Er hatte, schreibt Proust, nach der Schlacht bei Sedan darum gebeten, seinen geschlagenen Kaiser Napoleon III. in die Gefangenschaft begleiten zu dürfen. Bismarck habe das Gesuch zunächst zurückgewiesen, seine Entscheidung aber geändert, als ihm die frappierende Ähnlichkeit der Gesichtszüge des Rittmeisters mit Napoleon III. bewusst wurde. In Doncières glaubt man zu wissen, dass der Fürst von Borodino, offiziell lediglich der Neffe des Kaisers, ihm in Wahrheit noch näher stand, da seine Mutter es mit Napoleon III. gehalten habe so wie seine Großmutter mit Napoleon I.

Von dieser erfundenen Bismarck-Anekdote führen Verbindungslinien ins Leben ihres Autors. Einen Tag nach der Niederlage bei Sedan, am 3. September 1870, haben in Paris die Eltern Marcel Prousts, der Arzt Adrien Proust und Jeanne Weil, die dem jüdischen Großbürgertum entstammte, geheiratet. Am Tag nach der Hochzeit wurde die Dritte Republik ausgerufen, in der Adrien Proust eine steile Karriere machte, die ihn bis an die Spitze des französischen Gesundheitssystems führte, auf Reisen nach Ägypten und Nordafrika und über Jahrzehnte hinweg zu den Internationalen Gesundheitskonferenzen, auf denen er die Interessen Frankreichs bei der Seuchenprävention, vor allem beim Kampf gegen die Cholera, vertrat.

Es gab Ruinen in Auteuil zur Zeit der Geburt von Marcel Proust

Als Marcel Proust am 10. Juli 1871 in Auteuil, dem ländlichen Refugium der Familie seiner Mutter westlich von Paris, geboren wurde, schrieb Edmond de Goncourt in sein Tagebuch: "Der Krieg, die Belagerung, die Hungersnot, die Commune: All das war eine erbarmungslose und gewaltsame Ablenkung von meinem Kummer." Der Chronist der Pariser Gesellschaft, ihrer Premieren und politischen Skandale, ihrer Duelle und Skandale, Affären und Bankrotte hatte nicht lange vor dem Krieg seinen Bruder und Koautor verloren. Er lebte in Auteuil und fuhr ständig mit dem Omnibus oder der Bahn nach Paris, er hat in seinem Tagebuch die Reaktionen auf die Gefangennahme Napoleons III. festgehalten, die Bildung der "Regierung der nationalen Verteidigung", die Belagerung von Paris durch die Deutschen, die Bombardierungen, die auch die Vororte in Mitleidenschaft zogen, die Erschießungen, die Tage der Kommune und ihre blutige Niederschlagung im Frühjahr 1871. Es gab Ruinen in Auteuil zur Zeit der Geburt von Marcel Proust.

Als im Oktober 1920 der dritte Band der "Suche nach der verlorenen Zeit", "Le Côté de Guermantes" (dt. "Guermantes"), mit der erfundenen Bismarck-Anekdote erschien, hatte Proust nicht mehr lange zu leben. Er starb im November 1922 an einer Pneumokokken-Infektion, geschwächt vom Asthma-Leiden, das ihn seit der Kindheit begleitete, von der jahrelangen Selbstvergiftung durch ein stetig erweitertes Medikamentenarsenal und nicht zuletzt durch die hartnäckige Nachtarbeit an seinem großen Romanzyklus, etwa viertausend Seiten waren es am Ende, nur die Hälfte davon hat er selbst noch zum Druck gebracht.

Die Doncières-Episode nimmt darin keinen großen Raum ein, doch sind darin viele Fäden verknüpft. Der Erzähler, bürgerlicher Herkunft wie sein Autor, sucht nicht von ungefähr die Nähe seines aristokratischen Freundes. Er lebt seit Kurzem in unmittelbarer Nähe des Stadtpalais der Guermantes und hofft, durch Saint-Loup dessen Tante näherzukommen, der Herzogin von Guermantes, die er zu einem mythischen Wesen verklärt und liebt, ohne sie zu kennen. Er ist ein Verwandter des blassen, schwarz gekleideten Dandys mit der weißen Orchidee im Knopfloch und den verschatteten Augen, als den der Maler Jacques-Èmile Blanche den jungen Marcel Proust 1892 porträtiert hat. In ihm haust der Ehrgeiz, im vornehmsten Salon von Paris, bei den Guermantes, zu verkehren, aber noch muss er sich mit dem Salon von Madame de Villeparisis begnügen. Er spielt seine Rolle in der Komödie des Snobismus in vollem Ernst, und wer ihn nur obenhin ins Auge fasst, für den wird er leicht zum Kronzeugen des Verdachts, diesen Roman habe ein Müßiggänger für Müßiggänger geschrieben.

Albert Besnard Madeleine Lemaire French 1849 1934 1900 etching and aquatint on laid paper PUB

Albert Besnards zeitgenössisches Porträt der Madelaine Lemaire (1845-1928), deren "Dienstage" im Paris der Belle Époque die Pariser Gesellschaft anzogen: In diesem Salon fand Marcel Proust wichtige Freunde. Als Blumenmalerin war Madame Lemaire Modell der Figur der Madame de Villeparisis in der "Suche nach der verlorenen Zeit".

(Foto: Quint Lox/imago/Artokoloro)

Die Verklärung der Aristokratie ist aber nur eine der vielen Illusionen, die darin enttäuscht werden, und was die Erzählerstimme sagt, nicht das letzte Wort des Romans. Auch hat der Snob, als er in Doncières zu Gast ist, schon einen Rivalen im eigenen Ich, der ihn bis in den letzten Band begleiten wird. Dieser Rivale will Romanautor werden, von seinem Schreiben und seinem Weg zur Autorschaft handelt die "Suche nach der verlorenen Zeit" ebenso sehr wie von den Salons, die er dabei durchquert.

Von Beginn an wird die Erzählerstimme keinen Hehl daraus machen, woraus sie schöpft: Ganze Kathedralen wird sie für ihre Theorie der unwillkürlichen Erinnerung erbauen, die aus unverfügbaren, zufälligen Sinneseindrücken erwächst wie dem Geschmack der Madeleine, des in Tee getauchten Gebäcks in Form einer Jakobsmuschel, das zum Türöffner ins Reich der Kindheit von Combray wird. Aber in den langen Reflexionen über die Zeit und die Erinnerungen steckt allenfalls die halbe Wahrheit über den Roman Prousts. Auch das zeigt sich in der Doncière-Episode.

Sie ist rückgebunden an den berühmten ersten Satz, den Auftakt des gesamten Zyklus: "Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen." Die hinreißenden Passagen, in denen sie die Welt des Schlafes und zumal des künstlichen Schlafes erkundet, mögen aus der Erinnerung hervorgegangen sein. Aber lebendig werden sie durch die halluzinatorische Intensität, mit der sie Wahrnehmungen festhalten. Die akustische Kulisse der Garnisonsstadt ist dafür der Hintergrund, die Widerstandsfähigkeit des Schläfers wird durch die Fanfarenstöße des Regiments, das an seinem Hotelzimmer vorbeizieht, auf die Probe gestellt. Die neuen Schlafmittel der Pharmaindustrie verlassen den Rezeptblock der Ärzte und finden sich in der Welt der Treibhäuser und künstlichen Paradiese in der Malerei und Literatur des 19. Jahrhunderts wieder.

In der Dreyfus-Affäre kündigt sich die große Erzählung der Spaltung der Gesellschaft an

Prousts Erzähler kennt den "behüteten Garten, in dem wie unbekannte Blumen die verschiedenen Arten des Schlafes wachsen, die ganz anders sind, je nachdem sie aus dem Stechapfel, aus indischem Hanf oder den verschiedenen Ätherextrakten hervorgehen, ob es sich um einen Belladonnaschlaf oder einen durch Opium oder Baldrian erzeugten handelt". Der künstliche Schlaf grenzt an die Krankheitsregionen des Romans, in denen aus der Perspektive des Patientenwissens die Ärzte am Krankenbett der Großmutter wie Figuren aus einer Komödie Molières aussehen. Er entspringt der Empfindlichkeit, zumal der Geräuschempfindlichkeit, die den Erzähler mit seinem Autor verbindet, der sein Arbeitszimmer gegen den Straßenbahnlärm und die Geräusche im Haus mit Kork auskleiden ließ.

Und wenn es eines Beweises dafür bedürfte, dass Prousts "Recherche" der Erinnerungsroman, als der er berühmt wurde, nur sein kann, weil er ein Wahrnehmungsroman ist, dann wäre er in der Doncière-Episode mit der Ohropax-Apotheose erbracht, in der die Wirkung jener Wachskügelchen geschildert wird, mit denen man die Ohren der Kranken hermetisch verschließt. "Vergrößert man die in den Gehörgang eingeführten Kügelchen noch, so zwingen sie das Mädchen, das über unserm Kopf in stürmischen Melodien schwelgte, zum Pianissimo: tränkt man eines dieser Kügelchen zudem mit einer fetten Substanz, so gehorcht das ganze Haus seiner despotischen Herrschaft, und seine Gesetze gelten bis in die Außenwelt. Das Pianissimo genügt nicht mehr, das Kügelchen schließt augenblicklich den Klavierdeckel, und die Musikstunde findet ein plötzliches Ende; der Herr, der über unserm Kopf umherspazierte, stellt seinen Rundgang mit einem Mal ein; der Verkehr der Wagen und Straßenbahnen wird stillgelegt, als erwarte man ein Staatsoberhaupt."

Der Gesellschaftsroman, der in der "Recherche" steckt, wird durch die Kapriolen der Wahrnehmung nicht gefährdet. Als der Erzähler in Doncières eintrifft, ist dort unter den Offizieren die standesunübliche Parteinahme des Aristokraten Saint-Loup für den Hauptmann Dreyfus ein Dauerthema. Und in den Diskussionen darüber, ob die Milieuzugehörigkeit die Gesinnungen determiniert, kündigt sich Prousts große Erzählung über die Spaltung der Gesellschaft und der Salons durch die Dreyfus-Affäre und die mit ihr einhergehende Aufpeitschung des Antisemitismus an. Wer das Fin de Siècle allein mit dem schweren Duft der Orchideen und seiner exquisiten Kunst assoziiert, kann es in der "Recherche" als Schauplatz rabiater Politisierung kennenlernen. Und die in den Meinungsblasen ihrer Milieus und Medien eingeschlossenen Akteure als Vorläufer aktueller Konstellationen.

Paris, Weltausstellung 1900, Grand Palais, Vue intérieure du croisement

Der technische Fortschritt und die moderne Zivilisation spiegelten sich in den Weltausstellungen in Paris, hier das Grand Palais während der von 1900.

(Foto: picture alliance/arkivi)

Fragt heute jemand nach dem historischen Ort von Prousts Roman, folgt unweigerlich die Antwort "Belle Époque". Diesem Epochenbegriff, der nach dem Ersten Weltkrieg im elegischen Rückblick auf die Zeit davor geprägt wurde, ist seine Bevorzugung des Ästhetischen auf die Stirn geschrieben. Die Belle Époque war, politisch gesehen, die Dritte Republik, in der Frankreich nach der Niederlage gegen Deutschland wieder erstarken wollte, seine innere Ertüchtigung und seine koloniale Expansion vorantrieb.

Nachdem sich Saint-Loup von seiner Geliebten Rachel getrennt hat, lässt er sich, um Distanz zu gewinnen, nach Marokko versetzen, und wenn die Verdurins ihren Salon zu einer Mittelmeerreise einladen, machen sie Station in Algier. Eine luxuriöse Privatyacht gehört wie der Aktienbesitz zum Standard der besseren Kreise in Paris. Die technisch-zivilisatorische Modernität, die auf den Weltausstellungen in Paris im Elfjahresrhythmus - 1878, 1889, 1900 - Triumphe feiert, ist tief eingelassen in Prousts Wahrnehmungsroman. In den Interieurs der Salons und Innenwelten der Figuren bilden sich die technischen Innovationen ab, von der Elektrifizierung der Wohnungen und der Entwicklung der Fotografie zum Massenmedium über die Illustrierten als Newcomer auf dem Zeitungsmarkt bis zu den Automobilen, zu deren Gangschaltungen der Erzähler Entsprechungen in seinem Empfindungsleben entdeckt. Auch diese Seite der "Recherche" ist an prominenter Stelle in der Doncières-Episode enthalten, in der Schilderung des Telefongesprächs, das der Erzähler mit der von ihrer Trägerin abgelösten Stimme seiner Großmutter führt.

Die Technik wird sich mit ihrer prägenden Rolle im zivilen Alltag nicht bescheiden. Robert de Saint-Loup, der Frauenheld, der sich am Ende als einer der zahlreichen homosexuellen Figuren des Romans entpuppt, wird den Ersten Weltkrieg nicht überleben. Die Leser des Jahres 1920, den Krieg noch in den Knochen, werden erkannt haben, dass dieser Krieg seine in Doncières um 1900 verfochtene Theorie, nach der jede Schlacht nur das "Pastiche" einer vorangegangenen ist, widerlegt hatte: "Bei den gewaltigen Fortschritten der Artillerie werden künftige Kriege, wenn es überhaupt noch Kriege gibt, so kurz sein, dass, noch ehe man daran denken kann, die Lehren des Krieges zu nutzen, Frieden geschlossen sein wird."

Die Zeppeline des Luftkriegs verknüpft Proust, lange vor Coppola, mit dem Walkürenritt

Proust hat große Teile seines Romans im Ersten Weltkrieg überarbeitet, die Kindheitswelt von Combray, die im ersten, 1913 erschienenen Band, noch in der Nähe von Illiers, dem Geburtstort des Vaters nahe Chartres, angesiedelt war, bei der Neuausgabe des Jahres 1919 in die Nähe des Frontgeschehens zwischen Laon und Reims verlegt, die Ortsnamen der Kindheit zu Namen von Schlachten gemacht, den Kirchturm von Sainte-Hilaire und die Brücke über das Flüsschen Vivonne dem Krieg zum Opfer fallen lassen.

Nie wird im letzten Band der "Recherche" die Front selbst zum Schauplatz des Geschehens, doch ständig ist von ihr die Rede. Die Aeroplane und Zeppeline des Luftkriegs verknüpft Proust, lange vor Coppolas "Apocalypse now", mit Wagners Walkürenritt. Der Erzähler, aus dem kaum umrissenen Niemandsland eines Sanatoriums kommend, durchstreift im Jahr 1916 das nächtliche Paris während der Luftangriffe der Deutschen, an Explosionen und Ruinen vorbei. Ja, die "Recherche" ist ein Roman über die Belle Époque. Ebenso gut könnte man von ihr sagen, sie sei zwischen zwei Kriege gespannt.

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Marcel PROUST Portrait de Marcel PROUST le 1er Octobre 1891 a Trouville. Dessin de Jacques-Emile BLANCHE (1861-1942). Cr

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