"Zugegeben, bereits bevor sie sich für die Tugend entschieden hatte, im Alter der Ungewissheiten, hatte sie eine ausgeprägte Vorliebe für Soldaten": Zwischen der Liebe, vor allem der verbotenen, und dem Krieg besteht schon in den frühesten Erzählungen von Marcel Proust eine fühlbare Verbindung. Die zum Teil fragmentarischen Geschichten, die erst jetzt unter dem Titel "Der geheimnisvolle Briefschreiber" erschienen sind, hat Proust aus seinen veröffentlichten Werken aussortiert. Vielleicht weil sie noch zu unverarbeitet "das seelische und moralische Problem der Homosexualität" verhandeln, wie der Herausgeber Luc Fraisse schreibt. Oder weil sie einen starken Versuchscharakter haben, den die Anmerkungen der deutschen Ausgabe auch gut abbilden.
Obwohl darüber hinaus kaum etwas unbekannt ist, das Proust geschrieben hat, bringt ein kleines Insel-Bändchen noch eine charmante Seite ans Licht. Einige "Briefe an seine Nachbarin" zeigen, wie der enorm geräuschempfindliche Dichter in Briefen an Marie Williams, die Frau eines amerikanischen Zahnarztes, der in der Wohnung über ihm, im dritten Stock des Boulevard Haussmann 102, lebte und arbeitete, das Problem durch Zuneigungsstürme und paradoxe Interventionen zu lösen versuchte: "Madame, von ganzem Herzen danke ich Ihnen für Ihren schönen und liebenswürdigen Brief und möchte Sie im Gegenteil bitten, von nun an allen erdenklichen Lärm zuzulassen. Denn ich hatte nicht damit gerechnet, dass mich eine derart lebhafte Bedrückung am Versuch zu schlafen hindern würde."
Den privaten Proust kennen wir auch durch die Erzählungen seiner Haushälterin Céleste Albaret, die sie Jahrzehnte nach seinem Tod zu Protokoll gab. Am 18. November 1922 war sie zugegen, als Marcel Proust starb. Ihre Erinnerungen sind jetzt neu aufgelegt worden.
Eine Hauptfigur in Prousts Leben war Reynaldo Hahn, den er im Salon der Madame Lemaire kennenlernte. Was vermutlich als Liebesbeziehung anfing, wurde eine lebenslange Freundschaft. Darüber schreibt die italienische Journalistin Lorenza Foschini in "Und der Wind weht durch unsere Seelen". Der 2018 erschienene Briefwechsel von Hahn und Proust (herausgegeben von Bernd-Jürgen Fischer. Reclam, 574 Seiten, 68 Euro) enthält die Auf und Abs dieses stürmischen Verhältnisses: "Unseliger, Sie verstehen ja nicht die täglichen und allabendlichen Kämpfe, bei denen mich allein die Furcht zurückhält, Ihnen Schmerz zu bereiten."
Marcel Prousts Welt und seine Werke sind ohne Wegweiser heute kaum noch zu durchkreuzen. Bernd-Jürgen Fischer hat jetzt ein "Album in Bildern und Texten" besorgt, das wichtige Menschen, Orte und Ereignisse in Prousts Leben erklärt und in Zitaten zeigt, wo sich ihre Abbilder und Schatten in Romanen und Briefen wiederfinden.
Auch ein Lesebuch eigenen Rechts ist das "Proust-ABC" der Romanistin Ulrike Sprenger, das jetzt neu aufgelegt ist und von "Abraham" und "Académie française" bis "Zeit, verlorene" und "Zimmer" die Lemmata eines literarischen Lebens aufführt. Man solle das lesen, schreibt Alexander Kluge im Vorwort "wie eine Landkarte 1:300 000, in Karten in diesem Maßstab vertiefen sich im ernsthaften Krieg die Generalstäbler und Leiter des Geschehens". Kriegsmetaphern sind offenbar nicht weit, wo es um Proust geht.
Und auch eine der frühesten Proust-Einführungen ist wieder da: Ernst Robert Curtius hatte noch mit dem Dichter selbst korrespondiert. Ganz waren die Ausmaße von Werk und Wirkung noch nicht zu erkennen, da versuchte er sie schon an die deutschsprachige Leserschaft zu bringen: "Die Wirkung seines Geistes breitet sich täglich weiter aus", schrieb er 1925, jetzt hat der Schöffling-Verlag den Essay wieder aufgelegt.
Eine Preziose des Marcel-Proust-Universums macht Jürgen Ritte bestens zugänglich. Jean Giraudoux, ein zehn Jahre jüngerer Schriftsteller, den Proust bewunderte, zeichnete 1919 in einem Artikel mit dem Titel "Du côté de chez Marcel Proust" eine Generationenfolge der französische Literatur um den Ersten Weltkrieg herum. Der Autograf dieses Essays erscheint nun faksimiliert, transkribiert, kommentiert und zweisprachig ediert. Das alles, obwohl Marcel Proust mit dem Artikel selbst so unglücklich war: "eine große Enttäuschung für mich".