Kann und sollte die Philosophie mit Urteilen über die Bekämpfung des Sars-CoV-2-Erregers warten, bis die wissenschaftliche Faktenlage klarer wird? Bis man also mehr weiß zum Beispiel über die Dauer der Immunität, über die Ansteckungsgefahr von Kindern oder über die ganz genauen Sterblichkeitsraten?
Nein, natürlich nicht. Gerade in schwieriger Lage muss das Handeln reflexiv fundiert werden. Die Philosophie hat denn auch die Pandemie seit ihrem Ausbruch denkend begleitet: Slavoj Žižek sah einen neuen Kommunismus anbrechen. Giorgio Agamben spielte - ausgerechnet in Norditalien - die Gefahr der Erkrankung verschwörungstheoretisch herunter. Judith Butler betonte die globalen Interdependenzen und beschäftigte sich mit der ungerechten Gesundheitspolitik der USA. Zuletzt befasste sich Jürgen Habermas mit der Abwägung von Grundrechten, während Gunter Gebauer überlegt, ob von den Distanzregeln eine neue soziale Dressur übrig bleiben werde, eine weitere Veränderung im Zivilisationsprozess im Sinn von Norbert Elias. Andere mahnen, der Kapitalismus sei schon vor Corona nicht "normal" gewesen.
Hat Deutschland im Februar und März zu langsam gehandelt? Oder nicht doch recht schnell?
Auch die beiden Münchner Philosophen Nikil Mukerji und Adriano Mannino finden, dass man die Argumentationsmaschine in der Krisenzeit sofort anschmeißen muss: "Wir können uns wertvolle Chancen verspielen, wenn wir warten, bis die empirischen Daten endlich eindeutig sind." Man müsse einen "Echtzeit-Beitrag" zur "Katastrophenethik" leisten. Deshalb haben die beiden ein erstes philosophisches Buch zur Corona-Krise geschrieben, das an diesem Mittwoch in handlicher Form erscheint ("Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit", Reclam, Ditzingen 2020, 120 Seiten, 6 Euro).
Die Hauptleistung dieser ersten Hilfe durch "Philosophie mit einer Deadline" (Nick Bostrom) liegt in der Aufforderung zu klarem Denken selbst. Dass sogar Deutschland, das für seine Laborkapazitäten und seine Eindämmungsmaßnahmen allenthalben gelobt wird, im Februar erst mit einiger Verzögerung auf das Geschehen in Ostasien und Italien reagiert hat - dieses Säumen führen die beiden Autoren auf "eine Krise des Denkens" zurück. Mukerji & Mannino kritisieren scharf, dass angesichts von Wuhan nicht gleich notwendige Schritte erfolgten, etwa Maskenkauf und wirksame Nachverfolgungstechniken, dass also "hier die südkoreanischen und taiwanesischen Maßnahmen nicht, nur teilweise oder stark verspätet umgesetzt wurden". Man zögerte damals, so die Philosophen, "insbesondere deshalb, weil Argumente in Umlauf waren, die auf falschen sachlichen Annahmen oder grundlegenden Denkfehlern beruhen".
Diese Analyse hat erhellende und besserwisserische Aspekte. Lehrreich ist es, zusammenfassend über typische "Urteilsfehler" in der Corona-Bewältigung zu lesen: etwa, dass man das exponentielle Wachstum nicht versteht. Dass man sich auf falsche Erfahrungswerte beruft ("Kann ich mir in Deutschland nicht vorstellen"), also das vorhandene Wissen um globale Pandemierisiken ignoriert. Dass man dem Präventionsparadox erliegt (Vorbeugung ist ruhmlos, weil sie dann gewirkt hat, wenn man ihr Ergebnis nicht sieht). Oder dass man, besonders virulent, Expertenwissen falsch bewertet: In welcher Disziplin kennt sich der "Experte" wirklich aus? Was bedeuten seine Aussagen im fachlichen und sozialen Zusammenhang? Wo ist seine Evidenz zwingend, wo noch unsicher? Da findet sich bei Nikil Mukerji und Adriano Mannino immer mal ein schöner Satz für Armin Laschet oder Christian Lindner, den man in jeder Talkshow einblenden könnte, etwa: "Die überragende epistemische Bedeutung der Wissenschaft ist durch Dissense zwischen Experten nicht gefährdet."
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Das Besserwisserische aber an solchen kühlen Fehleranalysen ist nicht nur der bekannte unangenehme Effekt des Nachher-Schlauerseins. Da können die beiden Autoren durchaus darauf verweisen, dass sie sich als Dozenten und Berater schon früh mit Risikoethik beschäftigt haben; ihre Forderung, "auf Vorrat zu denken", hat also eine gewisse Glaubwürdigkeit. Nein, mangelhaft ist vor allem, dass sie außer kognitiven Fehlleistungen keinerlei weitere Erklärungen für das verzögerte Handeln anbieten, etwa menschliche Schwächen, die notwendige Trägheit von Institutionen, die Komplexität der Steuerung von Verhalten und demokratischer Meinungsbildung auch in der "Stunde der Exekutive". So gesehen, hat Deutschland doch in Wahrheit eher schnell als langsam gehandelt.
Außerdem verlangen Mukerji & Mannino in ihrem Buch zu Unrecht von den Fachleuten, noch schlauer zu sein als sie selber. Experten sollten in der Corona-Krise, schreiben sie, einen "Sinneswandel" immer nur dann öffentlich kundtun - etwa zu Schulschließungen oder Schutzmasken -, wenn sie sich "strikt an der wissenschaftlichen Evidenz orientieren". Was aber heißt denn hier "strikt"? Ist dieser Anspruch wirklich fair, wenn Virologen, Kurven-Modellierer und beratende Kommissionen zwischen verschiedenen und verschieden sicheren Forschungsergebnissen im Prozess der Erkenntnisgewinnung mit Urteilskraft abwägen müssen? Ganz zu schweigen von den widerstreitenden gesellschaftlichen Interessen, die ja ihrerseits von wissenschaftlicher Bewertung begleitet werden? Nein, so naiv positivistisch sollten Intellektuelle eigentlich nicht sein, die sich der praktischen Philosophie verschrieben haben.
Die Isolierung der Alten und Kranken hat jetzt einen tollen Namen: "Cocooning Plus"
Interessant ist außerdem der Teil des Buches "Covid-19: Was in der Krise zählt", in dem es um die Eindämmungsmaßnahmen sowie den Ausweg daraus geht. Zunächst folgern die beiden Philosophen in einer glasklaren Herleitung aus dem Ereignisverlauf im März: "Der sofortige Shutdown, der die schnelle Ausbreitung des Virus verlangsamen und die Überlastung der Intensivstationen verhindern sollte, war die richtige Antwort." Es ist beruhigend, das nicht nur bei Karl Lauterbach auf Twitter, sondern auf einer Reclam-Buchseite gedruckt zu sehen, als Gruß an alle heißgelaufenen Skeptiker. Denn selbst wenn die Zahlen bei der Vorhersage von schweren Erkrankungen und Todesfällen am Ende nach unten angepasst werden müssten, ist das Ausmaß der Gefährdung immer noch bei Weitem ausreichend, um ein Laufenlassen der Epidemie für unethisch zu erklären.
Fragwürdiger ist der Ausweg aus den Kontaktbeschränkungen, den Nikil Mukerji und Adriano Mannino vorschlagen. Er gleicht dem Modell, für das Julian Nida-Rümelin wirbt, dem die beiden Autoren auch als Schüler und Anhänger einer konsequentialistischen (also Zweck und Mittel abwägenden) Ethik verpflichtet sind. Das, was Nida-Rümelin mit Juli Zeh und anderen im Spiegel propagiert hat, nennen Mukerji & Mannino nun "Cocooning Plus". Das klingt gemütlich, heißt aber: "besonderer Schutz", sprich: stärkere und fortdauernde Isolierung der Risikogruppen. Wenn dies mit allgemein konsequenterem Containment und Nachverfolgen verbunden werde - das ist das "Plus" -, dann könne sich der Rest der Gesellschaft nun weitgehend unbefangen verhalten.
Hier unterliegen die gnadenlosen Verfolger von "Denkfehlern" selber welchen von dramatischer ethischer Tragweite. Denn bei diesem Vorschlag fehlt leider jegliche Überlegung über die individuellen Unterschiede innerhalb der Risikogruppen; und jegliche Sensibilität dafür, dass Millionen weniger gefährdeter Menschen gesellschaftlichen Kontakt zu "Risikogruppen" - also zu Millionen älterer Menschen, nicht nur Großeltern - haben wollen und müssen, und umgekehrt.
Das Problem solcher Corona-Philosophie ist nicht, dass sie zu philosophisch wäre, im Sinne von zu weltfremd, sondern dass sie noch nicht philosophisch genug ist, also zu wenig über den Sinn von Lebensvollzügen nachdenkt. Die gute Nachricht: Die Philosophie fängt an, über die "neue Normalität" nachzudenken. Und sie hat in den nächsten Monaten noch viel zu tun.