Michel Leiris' Klassiker "Phantom Afrika":Weißer Mann mit Messer

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Wecke das Kind in mir: der Autor Michel Leiris im Jahr 1975. (Foto: imago/Leemage)

Der tausendseitige Bericht einer kolonialen Raubmission des Surrealisten Michel Leiris ist neu erschienen. Hat er noch etwas zu sagen?

Von Jonathan Fischer

Michel Leiris' "Phantom Afrika" gleicht einer dieser Postkarten mit je nach Betrachtungswinkel wechselndem Bildmotiv: Vordergründig stellt es das Tagebuch einer ethnologischen Feldstudie dar. Leiris begleitete die Dakar-Djibouti Mission, diese berüchtigte französische Afrika-Expedition der Jahre 1931 bis 1933, als ethnologischer Sekretär und Archivar. Der den französischen Surrealisten nahestehende Schriftsteller beschreibt darin - auf fast tausend Seiten! - kulturelle und religiöse Rituale.

Zumindest ist das sein Auftrag. Denn wenn es dabei bliebe, wunderte man sich doch, warum dieser 1934 zuerst bei Gallimard Paris erschienene und in der deutschen Übersetzung vergriffene Ethnologie-Klassiker nun im Berliner Matthes & Seitz Verlag eine redigierte und erweiterte Neuauflage erhält. Wer sollte sich außerhalb von Seminar-Bibliotheken für diesen Ziegelstein interessieren?

Tatsächlich begleitet Leiris, ein Jazz- und Philosophie-begeisterter Großstadt-Intellektueller, eine zweieinhalbjährige Sammelorgie, bei der Dogon-Masken und äthiopische Kirchenmalereien, rituelle Umhänge und blutverschmierte Fetische eingesackt werden, eine Unternehmung, die bis heute als entscheidend für die wissenschaftliche Entwicklung der Ethnologie gilt. Was aber wenn die Einheimischen ihre Kultgegenstände nicht freiwillig rausrückten? Was wenn die Expedition - wie fast alle europäischen Feldforschungen dieser Zeit - zu kriminellen Methoden wie Einschüchterung, Erpressung, Diebstahl, Raub und Gewalt griff, um Masken, Statuen und religiöse Objekte zu entwenden?

Michel Leiris: "Phantom Afrika". Herausgegeben von Irene Albers. Aus dem Französischen von Rolf Wintermeyer und Tim Trzaskalik. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2022. 968 Seiten, 68 Euro. (Foto: m&s)

"Phantom Afrika" mutiert hier von einer Heldengeschichte zu einem düsteren Krimi, der angesichts von Leiris' psychoanalytisch eingefärbtem Schreibstil - er beschreibt auch seine Träume und inneren Konflikte, gesteht angesichts des Gebarens seiner Expeditionskollegen bisweilen eigene Scham- und Schuldgefühle ein - mehr als nur historische Bedeutung hat.

Leiris macht sogenannte Feldforschung als kaum kaschierten Raub erkennbar, beschreibt die Arroganz der Kolonialisten wie die Ohnmacht der Afrikaner und wirft en passant einiger seiner eigenen Lieblings-Mythen über den Haufen. Und das obwohl, oder gerade weil der Autor selbst in einem moralischen Dilemma steckt. Einmal hofft er, in Afrika ein Heilmittel gegen seine Zivilisationsmüdigkeit zu finden, ja "ein Herz zu entwickeln" - dann wieder packt ihn sein altbekannter Ennui.

Leiris hatte der Afrika-Expedition 1931 auf Anraten seines Freundes Georges Bataille zugestimmt. Auch sein Psychoanalytiker befürwortete die Reise. Denn was könnte einem Schriftsteller mit Schreibblockaden, sexuellen Phobien und Alkoholproblemen schon besser bekommen als das Eintauchen in vermeintlich primitive und unverdorbene Kulturen? Leiris hoffte jedenfalls auf eine persönliche Transformation. Afrika würde das heile Kind in ihm wecken.

Leiris hatte die Reiseberichte von André Gide und Arthur Rimbaud vor seiner eigenen Reise gelesen

Kein Wunder, dass die Aufzeichnungen des Expeditions-Sekretärs vor allem die eigene mentale Zerbrechlichkeit spiegeln. An einer Stelle sinniert Leiris über die Frage, warum ihn wohlbekleidete europäische Damen mit ihren Tabus sexuell mehr reizen als die Nacktheit, die er mancherorts in Afrika antrifft. Vor seiner Reise gehörte Leiris lange zu den Pariser Surrealisten, die ihre politisch-revolutionäre Haltung mit einer ausgesprochenen Afrika-Schwärmerei überhöhten. Ihre Hoffnung: In der Fremde könne man sich seiner bourgeoisen Prägung entledigen.

Leiris ist nicht der erste mit diesem Unterfangen. Arthur Rimbaud etwa ließ das Gedichteschreiben sein, um nach Afrika zu segeln - und kam Jahre später krank aber voller wilder Geschichten zurück. André Gide veröffentlichte nach einer Reise durch die französischen Kolonien Ende der Zwanzigerjahre populäre Reiseberichte wie "Voyage au Congo" und "Retour du Tchad". Leiris kannte beide. Und folgte in Rimbauds Fußstapfen der Illusion, in Afrika als Rebell getauft zu werden.

Ähnliche Verwandlungs-Fantasien, beziehungsweise deren Verdammung, spielen heute auch in die Debatte über kulturelle Aneignung hinein. Doch eines wird auch Leiris irgendwann klar: Er kann seine Nation und Klasse nicht leugnen. Seine libidinösen Afrika-Phantasien zerschellen immer wieder an der politischen Wirklichkeit. Besonders Leiris' Idee, Rettung bei den Einheimischen zu suchen, scheint zunehmend absurd, halten diese doch selbst religiöse Rituale ab, um ihren miserablen Lebensbedingungen zu entkommen.

Mit der Objektivität versucht Leiris es gar nicht erst, ausführlich schildert er seine Gefühlswelt

Es sind die literarischen Qualitäten, die "Phantom Afrika" herausheben und zu Leiris' vielleicht nicht bestem, aber erfolgreichstem Werk machen. Claude Lévi-Strauss erklärte ihn später zu einem der "wichtigsten Schriftsteller des Jahrhunderts". Stets ringt der Autor mit dem eigenen Interessen-Zwiespalt, stellt die Authentizität von Darbietungen der Afrikaner in Frage, ahnt, dass nicht nur die Europäer die Einheimischen betrügen, sondern auch letztere den Eindringlingen eigene Märchen auftischen. Dass Leiris es mit der Objektivität gar nicht erst versucht, sondern Emotionen wie Freude, Sorge, Frustration, sexuelle Lust und Scham in teils schnoddrigen Kommentaren einfließen lässt, macht den einst als "unseriös" Verleumdeten zum Vorreiter einer grundlegend neuen experimentellen Ethnografie.

Wenn Expeditionsleiter Marcel Griaule sich später gegen die Veröffentlichung von "Phantom Afrika" stellte, hatte das aber vor allem mit Leiris' ungeschönten Raub-Schilderungen zu tun: Wie etwa dem Bericht von der widerrechtlich erbeuteten Kono-Maske in Mali. Als das Oberhaupt der Kono die Weißen mit Forderungen nach komplizierten Tieropfern von seinem Heiligtum fernhalten will, wird Griaule grob: Er lässt dem Dorfoberen ausrichten, dass "als Vergeltung dafür, dass man uns hier offensichtlich zum Besten hält, der Kono gegen ein Entgelt von 10 Francs auszuliefern sei, wenn der Dorfobere und die Notabeln des Dorfes nicht von der angeblich im Lastwagen versteckten Polizei abgeführt werden wollten... Entsetzliche Erpressung!... Der Dorfobere ist am Boden zerstört."

Griaule schickt sodann einen seiner Angestellten, die Maske zu holen, die "weder die Frauen noch die Unbeschnittenen sehen dürfen, weil sie sonst sterben müssen". Im Dorf bricht Panik aus, Männer mit Stöcken treiben hastig ihre Frauen und Kinder in die Häuser hinein, während Leiris halbamüsiert notiert: "Umgeben von einer Aura besonders mächtiger und unverfrorener Dämonen oder Schweinehunde lassen wir die Leute in ihrer Verblüffung zurück".

Afrika hatte Leiris nicht als Person geheilt, aber als Literat auf das richtige Gleis gesetzt

Auch der Expeditionssekretär ist offensichtlich nicht gefeit gegen den Machtrausch, den er als "Weißer mit einem Messer" verspürt. Er verleiht zwar in "Phantom Afrika" dem Unternehmen eine gewisse Menschlichkeit, aber letztlich stellt Leiris doch die kolonialen Herrschaftsstrukturen nicht in Frage.

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Die rund 3500 Objekte, die die Mission Dakar-Djibouti einsammelte, machen heute den Stolz Pariser ethnographischer Museen aus - auch wenn Emmanuel Macron versprochen hat, einige davon zurückzugeben. Leiris aber sollte viele seiner Ideen von einst revidieren: Er unternimmt weitere Reisen nach Afrika und in die Karibik, befreundet sich unter anderem mit dem afrokaribisch-französischen Negritude-Mitbegründer Aimé Césaire, arbeitet für Jean Paul Sartres Zeitschrift Les Temps Modernes und wächst in den Fünfzigerjahren zu einem Anwalt der anti-kolonialistischen Linken heran.

Afrika hatte Leiris nicht als Person geheilt, aber als Literat auf das richtige Gleis gesetzt. In einem Brief an seinen Freund Bataille schreibt er, man könne als Ethnograph nur über eigene Erfahrungen schreiben: "Wie intensiv wir auch imaginieren, die Erfahrung der einheimischen Person zu leben, wir können niemals in seine Haut schlüpfen."

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