Dürers Lutherklage:"O Gott, ist Luther todt?"

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Keine Plastik aus der Werkstatt Dürer, sondern eine Plastikfigur eines fränkischen Spielzeugherstellers: Martin Luther in der Playmobil-Version. (Foto: Daniel Karmann/dpa)

Als einer der berühmtesten deutschen Texte der Renaissance gilt Albrecht Dürers wütende "Lutherklage". Nur war Dürer offenbar gar nicht der Autor.

Von Willi Winkler

Das Herz ist ihm schwer, sein Idol gefangen, möglicherweise bereits tot. "Und lebt er noch oder haben sie jn gemördert, das ich nit weiß", klagt Albrecht Dürer 1521 in seinem Tagebuch. Auf dem Reichstag in Worms hatte sich Martin Luther vor dem Kaiser geweigert, seinem Glauben abzuschwören, dafür war die Reichsacht über ihn verhängt worden. Wie sich bald herumsprach, war Luther, dieser "nachfolger Christj und deß wahren christlichen glaubens", aber gar nicht tot, sondern auf der Rückreise von Worms nur zum Schein überfallen worden. Sein Kurfürst hatte ihn auf die Wartburg bringen lassen, wo er vor den Nachstellungen der Kaiserlichen sicher war.

Dürer ahnt nicht, dass er selbst in dem Moment mitten in einen Umsturz geraten ist. Der Maler befindet sich im Mai 1521 in Antwerpen. Im Jahr zuvor ist er in die Niederlande gereist, darauf hoffend, dass Karl V., der Luther für vogelfrei erklärt, seine Leibrente verlängert. Das Tagebuch verzeichnet neben diesem Hauptprojekt viele Begegnungen und hält vor allem die Ausgaben fest, die für ihn, seine Frau und die mitgeführte Magd anfallen. Das Einzige, was in diesem Kontorbuch heraussticht, ist die wortgewaltige Lutherklage, vorgetragen in einem unerhört wütenden Ton, der sich zum Hass auf die kirchliche Obrigkeit steigert, insbesondere auf den Papst.

Das unschuldige Blut, das der "babst, pfaffen und die münchen vergossen"

Die sogenannte Lutherklage ist als Gefühlsausbruch einer der großen Texte der Renaissance. Luther-Biografen, auch diesem Autor, diente sie seit je als Beleg nicht nur dafür, wie schnell sich die neue Lehre verbreitete, sondern dafür, welche Heilserwartung sich mit dem Reformator verband. "O Gott, ist Luther todt, wer wird uns hinfürt das heilig evangelium so clar fürtragen?", seufzt der Tagebuchschreiber. Die Klage endet mit einem extra hochgestimmten Zitat aus der Offenbarung des Johannes: "Das sind die erschlagnen, unter dem altar Gottes ligent", und diese Toten würden wegen des unschuldigen Blutes, das "der babst, pfaffen und die münchen [Mönche] vergossen", nach Rache schreien.

Der Text ist ein Fremdkörper in den sonst so schlichten Aufzeichnungen. Diesem rasenden Wortschwall folgt nämlich bruchlos die nüchternste Prosa eines sparsamen Mittelständlers: "Aber hab ich 1 Gulden zu zehrung [Essen] gewechselt. Ich hab dem doctor aber 8 stüber [Groschen] geben. Item 2 mahl mit dem Ruderigo gessen." Wie passt das zu Blut und Rache?

Der niederländische Kunsthistoriker Jeroen Stumpel hat jetzt zum ersten Mal den Beweis geführt, dass die Klage gar nicht von Dürer stammen kann, gleichzeitig macht er einen plausiblen Urheber namhaft. Stumpels Untersuchung ist an entlegener Stelle und doch für alle sichtbar erschienen: Im Katalog der Ausstellung "Dürer war hier", die bis Oktober in Aachen gezeigt wurde und inzwischen in veränderter Form in London in der National Gallery zu sehen ist.

Kunsthistoriker hatten seit je Mühe, Dürers Ausbruch zu erklären. Es ist bekannt, dass der Nürnberger Maler Luther als "christlichen Mann" verehrte, der ihm, wie er in einem Brief schrieb, beizeiten "aus großen Ängsten geholfen" habe. Liebend gern hätte er ihn "kunterfetten" wollen, also porträtieren, was ihm aber nicht gelang; er ist ihm nie begegnet. Einer selber angefertigten Liste zufolge besaß Dürer sechzehn der Luther'schen Flugschriften.

"O Erasme Roderadame". Albrecht Dürer hat Erasmus von Rotterdam 1526 gezeichnet. Ob er aber auch wusste, wie man ihn korrekt im Vokativ anzureden hatte? (Foto: N/A)

Das erklärt aber nicht die direkte Anrede an Erasmus von Rotterdam, in die die Klage unvermittelt verfällt, "O Erasme Roderadame". Der Autor appelliert an den weltberühmten Gelehrten, sich jetzt, wo Luther womöglich bereits umgebracht ist, gegen die "ungerechte Tyrannei der weltlichen Gewalt" zu stellen, denn sonst sei er doch "ein altes männiken". "Hör, du Ritter Christi", fordert der Autor, "reit hervor neben den Herrn Christum, beschütz die Wahrheit, erlang der Martärer cron!"

Anscheinend stammt der Text von einem Antwerpener Prior namens Jacobus Probst

Erasmus wollte aber gar kein Ritter sein, ihm lag nichts an der Märtyrerkrone, schließlich war er lebenslang von Zuwendungen hoher und höchststehender Herrschaften abhängig, die ihm die Früchte seiner Gescheitheit finanzierten. Die Reformation lehnte er ab. Die neue Lehre war gefährlich, dennoch schlossen sich ihr auch in den Niederlanden Gelehrte und Ungelehrte an. Antwerpen, wo sich Dürer die längste Zeit seines niederländischen Jahres aufhielt, war ein Zentrum der protestantischen Rebellion. Erasmus schreibt am 30. Mai 1519 an Luther und berichtet von dem Aufruhr, den dessen Schriften auslösen, und dass "der Prior im hiesigen Augustinerkloster, ein wahrhaft christlicher Mann, der Dich über alles verehrt", sich als Luthers Schüler bezeichne. Dieser Prior ist Jacobus Probst, und er hat tatsächlich in Wittenberg beim Professor für Bibelauslegung studiert. Im Mai 1521, als die Nachricht vom plötzlichen Verschwinden des Reformators in Antwerpen eintrifft, hält sich der Prior zufällig wieder in Wittenberg auf, wo er den akademischen Grad eines Baccalaureus erwirbt.

Für Strumpel ist dieser Probst der wahre Autor der Lutherklage. Der Historiker argumentiert in seiner - so sie denn stimmen sollte - bahnbrechenden Zuschreibung streng philologisch: Als Handwerker ohne höhere Schulbildung verfügte Dürer kaum über genug Latein, um Erasmus mit der latinisierten Form des Herkunftsnamens Rotterdam anzureden und den korrekten Vokativ zu bilden. Dürer konnte nur Luthers deutsche Texte verstehen. Anfang 1520 bat er Georg Spalatin, den Kanzler des Kurfürsten Friedrich, um Zusendung, "wo doctor Martinus ettwas news macht, das tewczsch", also in deutscher Sprache abgefasst.

Probst hingegen war wie Erasmus Akademiker, war wie Erasmus und Luther Augustiner und er kannte Luther persönlich, der ihn in seinen Briefen seinerseits nicht furchtbar nett als "fettes Flemmichen", als dicken Flamen bezeichnete. Anders als Erasmus wurde Probst Opfer der Gegenreformation, die in den Niederlanden sogleich nach Luthers Auftritt auf dem Wormser Reichstag zuschlug. Er verfiel der Inquisition, musste abschwören, bereute den Abfall vom neuen Glauben sofort, predigte wieder reformatorisch, floh dann nach Wittenberg, wo er es Luther gleichtat, den Orden verließ und heiratete. Auf Betreiben seines Meisters wurde er Superintendent in Bremen.

Martin Luther, gemalt von Lucas Cranach. Von Dürer gibt es leider kein Luther-Porträt. (Foto: Hulton Archive/Getty Images)

Die ungerechte Tyrannei der weltlichen Gewalt war jedoch längst nicht beseitigt. Probst kam zwar mit dem Leben davon, aber seine beiden Mitbrüder aus Antwerpen, Jan van Esch und Hendrik Vos, wurden 1523 auf Geheiß des Kaisers, dem Dürer seine schöne Rente verdankte, auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Martin Luther bedauerte, dass er nicht zum Märtyrer werden konnte

Das Tagebuch der Reise in die Niederlande ist nicht im Original überliefert, es existieren nur Abschriften, die hundert Jahre später entstanden. Die Blätter mit der Lutherklage, die Dürer im Augustinerkloster erhalten haben kann, wo er regelmäßig zum Essen war und mit den Brüdern zusammentraf, wurde offenbar von Dürer selber als Dokument vereinnahmt und so Teil des Textkorpus. Stumpel deutet die Klage als Interpolation eines Berichts, den der in jenen bewegten Wochen in Wittenberg immatrikulierte Probst an seine Mitbrüder im Antwerpener Kloster schickte, als er von der Gefangennahme Luthers erfuhr.

Martin Luther, dem die Depression nie fremd war, bedauerte seinerseits, dass er, "wiewohl ich lieber hätte von den Tyrannen ... den Tod erlitten", nicht zum Märtyrer werden konnte, sondern mit heiler Haut der weltlichen Obrigkeit entkommen war. Anders als sein Verehrer Jacobus Probst verlor er nie den Glauben an diese Obrigkeit. Als sich die Bauern auf seine Thesen beriefen, rief er die weltliche Gewalt zu Hilfe. "Es ist besser, dass alle Bauern erschlagen werden als die Fürsten und Obrigkeiten." Konsequenterweise erhob ihn das 19. Jahrhundert zum Nationalheiligen. Die Hohenzollern setzten seiner Schlosskirche eine Preußenhaube auf, und Wilhelm II. trank in Wittenberg demonstrativ aus dem Luther-Becher. Allein der Pfarrerssohn Friedrich Nietzsche wehrte sich dagegen, als er 1889 in "Ecce Homo" stöhnte: "Luther, dies Verhängnis von Mönch, hat die Kirche, und, was tausendmal schlimmer ist, das Christentum wiederhergestellt, im Augenblick, wo es unterlag."

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:Danke, Luther

Vor einem halben Jahrtausend übersetzte der Reformator die Bibel ins Deutsche. Diesem Erbe verdanken wir das tägliche Brot der Verständigung. Eine Laudatio.

Kommentar von Johan Schloemann

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