"Madame Claude" bei Netflix:Es war einmal im Puff

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Königin von Paris: Karole Rocher ist "Madame Claude" im Netflix-Film von Sylvie Verheyde. (Foto: Netflix)

Der Film "Madame Claude" erzählt das Leben einer berühmten Pariser Bordellbetreiberin - und soll Netflix wohl neue Zielgruppen erschließen.

Von David Steinitz

Es gibt vermutlich nicht viele Puffmütter, auf die weltweit Nachrufe erscheinen - aber Madame Claude war ja auch nicht irgendeine Puffmutter. Als sie 2015 im Alter von 92 Jahren starb, waren die Zeitungen von Le Monde bis zur Washington Post voll mit letzten Grüßen an eine Frau, die mit ihrem Pariser Bordell das Nachkriegsfrankreich fest im Griff hatte und zu einer sagenumwobenen Prominenten aufstieg.

Wer aber glaubt, dass mit Madame Claude auch eine Ära zu Ende ging, in der über die Käuflichkeit weiblicher Körper und die Exzesse reicher Männer nicht weiter nachgedacht werden musste, der hat nicht mit Netflix gerechnet. Dort gibt es, zeitgleich mit Feminismus-Storytelling und Diversitätsinitiativen - und scheinbar geschäftlich mit diesen absolut vereinbar - auch eine erstaunlich wachsende Zahl von Softsexfilmen mit Kunstanspruch. Der neueste ist "Madame Claude" von Sylvie Verheyde.

Zeitweise beschäftigte Madame Claude um die 200 Prostituierte gleichzeitig, für deren Vermittlung sie 30 Prozent des Honorars einstrich. Die jungen Frauen sprachen angeblich scharenweise bei ihr vor, und Madame Claude, die eigentlich Fernande Grudet hieß, war wählerisch: 19 von 20 Mädchen habe sie abgelehnt, weil ihre Mitarbeiterinnen bei offiziellen Dinners "vor einem König, drei Prinzen, vier Ministern und fünf Botschaftern" bestehen müssten, wie sie in einem Interview mit der Vanity Fair erläuterte. Madame war geschäftstüchtig. Ihr Motto lautete: "Es gibt zwei Dinge, für die die Menschen immer Geld bezahlen werden: Sex und Essen. Und ich kann nicht besonders gut kochen."

Das halbe französische Kabinett soll bei ihr zu Gast gewesen sein

Zu ihren Kunden gehörten Marlon Brando, Alain Delon, Marc Chagall, Aristoteles Onassis, der ehemalige israelische Außenminister Moshe Dayan sowie etwas weniger prominente, aber trotzdem mächtige britische Banker, deutsche Industrielle und italienische Autohersteller. Und glaubt man der Vanity Fair, auch mindestens das halbe französische Ministerkabinett der Sechzigerjahre.

Madame Claude hatte beste Verbindungen zur Polizei, in die Politik und ins Showbusiness, und lernte früh, dass man sich selbst zum Mythos machen kann, wenn man die mächtigste aller PR-Waffen wählt: das Schweigen. Über ihre Herkunft kursieren die verschiedensten Gerüchte. Mal soll sie während des Zweiten Weltkriegs in der Résistance gekämpft haben, mal hieß es, sie sei in ein KZ deportiert worden. Anderen Berichten zufolge war sie eine gefallene Aristokratin, die in ihrer Jugend von Tür zu Tür tingelte, um Bibeln zu verkaufen.

Madame Claude wählte ihre Mitarbeiterinnen streng aus. (Foto: Netflix)

Die einzige Figur in Deutschland, die man vom Ruhm her mit Madame Claude vergleichen könnte, ist Rosemarie Nitribitt aus den Fünfzigern, die ermordet und als "Mädchen Rosemarie" verewigt wurde. Aber während im psychotischen Nachkriegsdeutschland alles, was nicht mit dem amtlich genehmigten Vollzug der Ehe zu tun hatte, in der Kunst wie im Leben zum Tod führen musste, hatten die Franzosen immer schon ein lässigeres, augenzwinkernderes Verhältnis zum Sex.

Deshalb sorgte Madame Claude auch außerhalb ihrer Heimat für Furore, und ihr Leben wäre wie gemacht für einen Spielfilm über die Untiefen der Bourgeoisie in der Tradition von Luis Buñuels "Belle de Jour". Einen ersten Versuch gab es schon zu ihren Lebzeiten, "The French Woman", 1977, mit Musik von Serge Gainsbourg, der natürlich nie weit weg war, wenn theatral gestöhnt wurde.

Softsexfilme mit Kunstfilmanspruch sind bei Netflix ein eigenes Genre

In der neuen Version weiß Sylvie Verheyde, was man im Streamingzeitalter bieten muss, um nicht sofort in den Tiefen der Mediatheken zu verschwinden. Das erste paar Brüste gibt es bei drei Minuten und zwei Sekunden zu sehen. Leider hat ihr Film aber nichts von Buñuels bösem Blick und schlafwandlerischem Charme. Sie versucht sich eher an einer Art "Wolf of Pouffe Street" im Scorsese-Stil.

Ihre Madame Claude, gespielt von Karole Rocher, überprüft mit strengem Griff die Straffheit der Brüste der Bewerberinnen und zeigt den Mädchen auf dem Bidet die richtigen Hygienemaßnahmen im Intimbereich. Dazu sagt sie Sätze, bei denen man sich die Einführung einer Schandgeige für Drehbuchautoren wünscht. "Sie ist eine Virtuosin mit der Muschi", zum Beispiel. Oder "Frankreichs Puffmutter zu sein war gefährlich". Der Softsexfilm aber hatte schon immer seine eigenen Maßstäbe für Qualität, und wenn man die hier anlegen will, handelt es sich bei "Madame Claude" um ein Meisterwerk.

Madame Claude , Frankreich 2021 - Regie, Buch: Sylvie Verheyde. Kamera: Léo Hinstin. Mit: Karole Rocher, Garance Marillier. 112 Minuten. Auf Netflix.

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