Ein Zucken und Würgen
Einmal, ein einziges Mal bringt dieser unlustigste Clown der Welt tatsächlich jemanden zum Lachen. Ein Junge schaut den psychisch kranken Arthur, der an diesem Punkt der Geschichte noch nicht gefährlich ist, im Bus neugierig an. Arthur macht Grimassen und freut sich über das Kichern des Kindes, bis dessen Mutter das Spiel äußerst barsch unterbindet. Für einen Moment liegt ein Unglauben in der Luft, wie garstig die Welt doch geworden ist - darin findet Todd Phillips' "Joker" seinen unschuldigen Ursprung. Dann aber muss Joaquin Phoenix zum ersten Mal seine Joker-Lache herauskotzen, die mehr ein Zucken und ein Würgen ist, eine zynische Notdurft, ein Auswurf, zu verbergen hinter vorgehaltener Hand. Tobias Kniebe
Lust: "Once Upon A Time... In Hollywood" von Quentin Tarantino; Frust: "Rambo: Last Blood" von Adrian Grunberg
Die SZ-Redaktion hat diesen Artikel mit einem Inhalt von YouTube angereichert
Um Ihre Daten zu schützen, wurde er nicht ohne Ihre Zustimmung geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von YouTube angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt. Mehr Informationen und eine Widerrufsmöglichkeit finden Sie untersz.de/datenschutz.
SOS im Fischerboot
Auf 16mm-Filmmaterial wurde "Bait" von Mark Jenkin gedreht. Das Flackern der Bilder, ihr harter schwarz-weiß-Kontrast beschwört die Schönheit des analogen Films, dass man nicht mehr wegsehen kann. Die Story, experimentell angelegt, verbindet künstlerisches Konzept und gegenwärtige Probleme: Man erlebt den Ruin eines Küstendorfs im englischen Cornwall, das nach und nach von Touristen entdeckt wird. Deren Anspruch und Gleichgültigkeit kollidieren mit dem Arbeitsalltag der Fischer, die angeschrien werden, morgens später aufs Meer zu fahren, damit der Lärm ihrer Boote die Urlauber nicht weckt. "Verschieben Sie auch die Gezeiten für uns?", ist die Antwort, die der Tourist nicht versteht, die aber die Forderung, Kino möge politische Haltung zeigen, amüsant erfüllt. Doris Kuhn
Lust: "Bernadette" von Richard Linklater; Frust: "My Zoe" von Julie Delpy
Trennen und Verbinden
Als in Nadav Lapids "Synonymes", dem diesjährigen Berlinale-Gewinner, Yoav aus Israel in Paris ankommt, werden ihm sogleich all seine Sachen gestohlen. Ein junges Pärchen nimmt sich seiner an. Bald sitzt er mit Émile auf dem Sofa des edlen Haussmann-Apartments. Sie lächeln sich an. Küssen sie sich gleich? Auftritt Caroline. Im raschen Wechsel macht sie das Licht an und wieder aus. Und die Kamera schnellt präzise und ruhelos zwischen dem Schalter an der Wand und dem Licht an der Decke hin und her. Da denkt man sich: Das ist Kino. Dieses nervöse Trennen und Verbinden von Bildern, Körpern, Emotionen, durch die Kamera und den Schnitt. Dieser Film muss ein Film sein. Es gibt kein Synonym für ihn.Philipp Stadelmaier
Lust: "Diamantino" von Gabriel Abrantes, Daniel Schmidt; Frust: "Mein Leben mit Amanda" von Mikhaël Hers
Strenge Ethik
In diesem Film gibt es so viele magische Momente, dass man eigentlich die ganze Seite bräuchte, um sie alle zu beschreiben. Deshalb, stellvertretend für die Genialität von Quentin Tarantinos "Once Upon A Time... in Hollywood", nur dieser hier: Hustend und spuckend geht Rick Dalton (Leonardo DiCaprio) in der Drehpause zum Bad Guys Saloon, wo die achtjährige, altkluge Trudi (Julia Butters) gerade ein dickes Buch über Walt Disney liest. Zuerst ist sie leicht angewidert von Rick, dann beginnen sie ein Gespräch, in dessen Verlauf sie ihre strenge Schauspielerethik zum Ausdruck und Rick zum Weinen bringt. Bonusmomente: "This is his nap time." Und: "Not in front of the Mexicans!" Juliane Liebert
Lust: "Joker" von Todd Phillips; Frust: "Avengers: Endgame" von Joe und Anthony Russo
Die SZ-Redaktion hat diesen Artikel mit einem Inhalt von YouTube angereichert
Um Ihre Daten zu schützen, wurde er nicht ohne Ihre Zustimmung geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von YouTube angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt. Mehr Informationen und eine Widerrufsmöglichkeit finden Sie untersz.de/datenschutz.
Ein Raubtier
Der vorgereckte Hals von Jonas Dassler als "Kiezmörder" Fritz Honka in Fatih Akins Schauerstück "Der Goldene Handschuh". Dieser Hals, während Honka eine Frau, die verzweifelt genug war, in der Hoffnung auf Schnaps in seine stinkende Wohnung mitzukommen, erst anschreit und ihren Kopf dann auf die Tischplatte haut, immer wieder. Dieser vorgereckte Hals, während er die Kornflaschen aus der Plastiktüte auf seinen Küchentisch packt, eine nach der anderen. Dieser vorgereckte Hals, während er über dem Tresen hängt - ein Raubtier, das auf Beute wartet. Man kann diesen Film nicht einfach mögen, dafür ist er zu schrecklich, macht er zu betroffen. Aber deshalb ragt der Horror dieser Szenen auch aus dem Kinojahr hervor wie der Hals von Jonas Dassler. Philipp Bovermann
Lust: "Joker" von Todd Phillips; Frust: "Das melancholische Mädchen" von Susanne Heinrich
Mafiosi beim Rotwein
Mafiarituale hat kein Regisseur so inszeniert wie er, mit erotischer Obsession: Männergespräche im schummrigen Licht verrauchter Lokale. Auch in seinem "Irishman" zeigt Martin Scorsese den Obermafioso und seinen Adlatus - Joe Pesci, Robert De Niro - beim Rotwein, sie teilen sich ein Stück Brot. So gut schmeckt das pane, sagt der Chef, wie auf Sizilien. Weil der Film ein Abgesang auf den Gangstermythos ist, wiederholt sich die Szene drei Filmstunden später, als die Männer alt sind und im Gefängnis sitzen. Wieder liegt ein Stück des guten Brotes zwischen ihnen, wieder bricht De Niro es brüderlich. Aber Pesci winkt müde ab, deutet auf seinen Mund: Er hat keine Zähne mehr, um es zu kauen. Die Party ist vorbei. David Steinitz
Lust: "Once Upon A Time... In Hollywood" von Quentin Tarantino; Frust: "Avengers: Endgame" von Joe und Anthony Russo
Die SZ-Redaktion hat diesen Artikel mit einem Inhalt von YouTube angereichert
Um Ihre Daten zu schützen, wurde er nicht ohne Ihre Zustimmung geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von YouTube angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt. Mehr Informationen und eine Widerrufsmöglichkeit finden Sie untersz.de/datenschutz.
Beatles in der Abendsonne
Das erste Mal, großes Kino kann den Zauber zurückholen. In der fantastischen Beatles-Hommage "Yesterday" von Danny Boyle gibt es einige erste Male. Dank der Prämisse des Drehbuchs (Richard Curtis) ist der Filmheld, ein unbekannter Songwriter, einer der wenigen Menschen, die sich an die Hits der Fab Four erinnern. Keine Szene ist so rein und zärtlich, so ergreifend und schön wie jene, in der Jack (Himesh Patel) seinen Freunden erstmals "Yesterday" vorsingt. Die Kamera schwenkt sanft über die staunenden Gesichter, eine magische Uraufführung in der Abendsonne. Aber da es sich um eine britische Komödie handelt, bedarf es einer selbstironischen Brechung. Einer der ahnungslosen Kumpels kommentiert: "Ein bisschen kitschig!" Eine andere Freundin: "Es ist nicht Coldplay, es ist nicht ,Fix You'." Bernhard Blöchl
Lust: "Bernadette" von Richard Linklater; Frust: "Get Lucky" von Ziska Riemann
Rakete aus dem Pool
Er werde sich jetzt umbringen, sagt der junge Elton John (Taron Egerton) und lässt sich in den Swimmingpool fallen. Auf dessen Grund begegnet er in "Rocketman" von Dexter Fletcher seinem jüngeren Ich, das auf einem Miniklavier das Titellied anstimmt. Der Lebensmüde singt weiter, wird aus dem Wasser gefischt, kommt in eine Klinik, dort pumpt man ihm den Magen aus. Das hält ihn aber nicht vom Singen ab. Dann wird er ausgezogen, in ein Baseball-Outfit gesteckt und auf eine Konzertbühne geschubst. Er steigt aufs Klavier, schlägt einen Ball, singt weiter und hebt ab wie eine Rakete. Alles in einer magischen Szene, von denen es in dieser funkelnden Filmrevue so viele gibt, dass man die Leiden des jungen Elton fast vergisst. Josef Grübl
Lust: "Leid und Herrlichkeit" von Pedro Almodóvar; Frust: "Men in Black: International" von F. Gary Gray
Die SZ-Redaktion hat diesen Artikel mit einem Inhalt von YouTube angereichert
Um Ihre Daten zu schützen, wurde er nicht ohne Ihre Zustimmung geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von YouTube angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt. Mehr Informationen und eine Widerrufsmöglichkeit finden Sie untersz.de/datenschutz.
Schwestern für eine Nacht
Es hat im Jahr 1770 tatsächlich schon Malerinnen gegeben. Aber am schönsten ist die Geschichte der Künstlerin Marianne, die eine widerspenstige junge Frau für deren Verlobten porträtieren soll, den sie noch nie gesehen hat, wenn in "Porträt einer jungen Frau in Flammen" von Céline Sciamma fantasiert wird. Einmal übernimmt die Utopie das Regiment über den entlegenen Landsitz in der Bretagne. Die drei Frauen - Malerin, Modell und Magd - sind unter sich, solidarisieren sich miteinander, campieren im selben Raum und machen die Nacht zum Tag. Konventionen und Hierarchien sind für einen kurzen Moment aufgehoben. Man könnte sagen: Sie sind herrenlos - frei, egalitär, und irgendwie schwesterlich. Susan Vahabzadeh
Lust: "Can You Ever Forgive Me?" von Marielle Heller; Frust: "Avengers: Endgame" von Joe und Anthony Russo
Siebzehn Kaninchen
Sie ist eine Ausgeschlossene im eigenen Palast, diese englische Königin Anne, die Olivia Colman mit meisterhafter Unberechenbarkeit spielt. Zu hysterisch für das Geflecht aus Intrigen an ihrem Hof, in "The Favourite" von Yorgos Lanthimos. Gefangen in ihrer Egozentrik, taugt sie weder für die Politik noch die Vergnügungen: Mit dramatischem Augen-Make-up sieht sie aus wie ein Dachs - eine Figur, wie sie nur abgründige Humoristen wie Lanthimos inszenieren können. In einer Szene erzählt Anne von ihren siebzehn Kaninchen, die man bisher für eine weitere Exzentrik hielt. Sie sind aber Ersatz für ihre siebzehn Kinder, alle tot geboren oder nach der Geburt gestorben. So dicht wie in diesem Moment überlagerten sich 2019 nirgends Leid und Lächerlichkeit. Annett Scheffel
Lust: "Porträt einer jungen Frau in Flammen" von Céline Sciamma; Frust: "Joker" von Todd Phillips
Karaoke im Motel
Man weiß ja nie, wen man sich da als Geisel von der Straße pflückt. So gerät die wortkarge, toughe Juwelendiebin Mel (Hannah Herzsprung) an die hysterische Quasselstrippe Franny (Karoline Herfurth). Auf der Flucht vor Cops und Gangstern gehen die beiden gegensätzlichen Temperamente im metallicblauen Honda Prélude auf Buddy-Movie-Kurs, quer durch Berlin. Wenn die ängstliche Franny dann im Motel völlig abgeht, zu "I want to know what love is" von Foreigner, kann sich auch Mel das Lächeln nicht mehr verkneifen. Für so viel Witz, Wärme und Energie wie in "Sweethearts" von Karoline Herfurth muss man die beiden einfach lieben. Selbst der gefesselte und geknebelte Cop ist hoffnungslos verliebt. Anke Sterneborg
Lust: "Sunset over Hollywood" von Agnes-Lisa Wegner und Uli Gaulke; Frust: "Ich war zuhause, aber..." von Angela Schanelec
Die SZ-Redaktion hat diesen Artikel mit einem Inhalt von YouTube angereichert
Um Ihre Daten zu schützen, wurde er nicht ohne Ihre Zustimmung geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von YouTube angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt. Mehr Informationen und eine Widerrufsmöglichkeit finden Sie untersz.de/datenschutz.
Verloren im All
Ein Baby, allein, am Boden krabbelnd, mit sich selbst beschäftigt. In einem Raumschiff, das seit Jahren unterwegs ist zu einem fernen Schwarzen Loch. Auf einem der Monitore flackern Zahlenreihen, auf einem anderen tanzt ein Indianer um ein Feuer, im Land der Head Hunters, ein amerikanischer Stummfilm. Der einzige andere Mensch an Bord ist der Vater, Robert Pattinson, er führt draußen im All eine Reparatur durch. Die Aufgabe des Kinos in "High Life" von Claire Denis: zwischen Nähe und Getrenntsein zu vermitteln, zwischen Stillstand und Bewegung. Am Ende des Films, die Tochter Willow ist nun ein Teenager, brechen die zwei auf ins Zentrum des Schwarzen Lochs: Willow, where are you hiding now? Willow, are we rushing forward, are we standing still? Fritz Göttler
Lust: "La Flor" von Mariano Llinás; Frust: "Der Goldene Handschuh" von Fatih Akin
Einfach fliegen
Jo (Stycie Waweru) steht in ihrem Superhelden-Kostüm mit dem Rücken zur Kamera. Sie dreht sich noch einmal um, sie lächelt noch einmal für die, die sie liebt, ein letztes Mal in ihrem Leben. Nicht nur in diesem Augenblick ist ein Kind in dem Film "Supa Modo" des kenianischen Regisseurs Likarion Wainaina so viel stärker und weiser als die Erwachsenen. Jo ist neun Jahre alt, begeistert von Superhelden und sehr krank. Sie wird sterben. Während die Mutter sie in Watte packt und das Dorf ihr vorgaukelt, sie hätte Superkräfte, träumt Jo nur von zwei Dingen: Sie will einen Film machen, und sie will fliegen können. Beides soll ihr gelingen. Und der Zuschauer? Er wird, egal wie alt er ist, weder Supa Modo noch die kleine Heldin Jo und ihr Lächeln vergessen. Ana Maria Michel
Lust: "Dumbo" von Tim Burton; Frust: "Die drei !!!" von Viviane Andereggen
Unberechenbar
Ein Mädchen sieht pink. Rosa flutet Bennis Kopf; sie brüllt "Ihr Fotzen", "Ich hasse euch" und "Fick dich". Sie spuckt und schlägt und kreischt, wirft Bobbycars gegen eine Scheibe. Der Gewaltausbruch der elfenhaft blonden Benni ist ein Schock, man fühlt sich wie im "Exorzisten". Aus Benni spricht allerdings nicht das absolut Böse; sie ist ein traumatisiertes, liebesbedürftiges Kind. Nora Fingscheidt lässt aber nicht nur Benni immer wieder explodieren, sie sprengt auch die Grenzen des Erwarteten mit ihrem Film. "Systemsprenger" ist kein Sozialdrama, der Titel ästhetisches Prinzip. Wenn Benni ausrastet, werden die Bilder und der Schnitt ebenfalls wild; auf der Tonspur gibt es harten Punk. Bennis Wut lässt sich durch kein "System" mehr einhegen. Martina Knoben
Lust: "Endzeit" von Carolina Hellsgård; Frust: "After the Wedding" von Bart Freundlich