Kolumne "Affentheater":Englands größter Dildo

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Der Glockenturm des Parlamentsgebäudes wird zur Zeit renoviert. (Foto: AFP)

Big Ben soll zum Abschied pünktlich klingeln: Die englischen Konservativen tun derzeit einiges, um am 31. Januar in London eine ungeplante Nationalfeier für einen ungeplanten Brexit ausrichten zu können.

Kolumne von A. L. Kennedy

Während wir in Richtung Abgrund schliddern, gehen uns als erstes die Worte aus. Wenn wir unseren Zustand beschreiben wollen, müssen wir längst schon über die Grenzen der Satire hinausgehen. Den Dadaismus haben wir locker hinter uns gelassen. Mit der Aussage, dass unsere Gefühlslage am besten von Hieronymus Bosch dargestellt werden könnte, zögere ich nur, weil - tja, wo soll man nach Bosch noch hin? Ein verschmierter Streifen Scheiße auf einem brennenden Lastwagen, der in Dover festsitzt?

Doch dies ist nur die Intensivierung eines alten Problems. Im Jahr 1967 betrachtete der Autor John Berger für sein Buch "Geschichte eines Landarztes" die Landarbeiterschaft der Grafschaft Gloucestershire. Er beklagte die Folgen mangelhafter Bildung und kultureller Verarmung, die Menschen die Fähigkeit nahm, sich auszudrücken, und sie oft in stummer Verzweiflung versinken ließ. Persönliche und kommunale Selbstbestimmung waren gar nicht oder nur schwach ausgeprägt. Geistige Beweglichkeit wurde durch "Common Sense" ersetzt - ein Begriff, der jeder positiven Bedeutung entkleidet wurde. Berger schreibt: "Common Sense ist im Wesentlichen statisch. Er gehört zur Ideologie der gesellschaftlich Passiven, die nie begreifen, wer oder was sie in die Lage gebracht hat, in der sie sich befinden." Im Lauf der letzten fünf Jahre wurden die besten psychologischen Manipulationsmethoden verwendet, die man für Geld kaufen kann, um die Löcher und Wunden zu füllen, die der "Common Sense" in Englands Seele geschlagen hat.

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Das würde ja Großbritanniens vordemokratischen Status quo gefährden, mit dessen Hilfe der Brexit erst durchgesetzt wurde. Die schottische Autorin A. L. Kennedy berichtet wöchentlich aus dem Seelenleben des Brexit.

Kolumne von A.L. Kennedy

Natürlich hat Großbritannien jeden Gedanken an eine gebildete, kompetente oder verantwortungsbewusste Führung fahren lassen. Unser Premierminister, Popo der Killerclown, ist unser Loch der Löcher; die große Leere. Es ist bizarr, aber er hat viel mit den Arbeitern gemein, die entrechtet verkümmern und sich in falscher Hoffnung an Aberglauben klammern. Popo ist eine stammelnde und watschelnde Jammerfigur, deren Metaphern sich gegenseitig erdrosseln, sobald sie seinen Lippen entfleucht sind. Er murmelt magische Worte wie Union Jack, Empire und Future. Aber natürlich unterscheidet er sich von den Schafhirten aus Gloucestershire - und von den meisten Menschen. Er ist ein narzisstisches Raubtier. Der Reichtum seiner Familie und sein eigenes anschwellendes Konto machen jedes Mitgefühl optional. Schon seine Kindheit, die aus bezahlter Betreuung und den Brutalitäten englischer Privatschulen bestand, machte Mitgefühl geschmacklos. Er lauert hinter verstümmelten Parolen, zum Teil weil er nicht sonderlich klug ist, vor allem aber, weil es ihm solche Freude bereitet, uns zu belügen, und weil es seine Macht unterstreicht, wenn er schlecht lügt. Amoralität berauscht ihn. Sie glimmt in seinem schiefen Grinsen wie fluoreszierende Verwesung.

Farages "Partei" erweist sich häufig eher als rechtsextremes Schneeballsystem

Sein jüngster Slogan - der ihn von anderen lachhaften Nationalisten abheben soll - lautete "Bung a bob for a Big Ben bong" ("Lassen Sie 'nen Shilling springen, dann kann die Big-Ben-Bimmel klingen"); das ist so lachhaft nationalistisches Wortgeklapper, dass sich allein dadurch wahrscheinlich drei Shakespeare-Sonette in Luft aufgelöst haben. "A bob" ist die umgangssprachliche Bezeichnung einer Münze, an die sich niemand unter 60 erinnert. "To bung" wird ausschließlich zur Umschreibung illegaler Zahlungen verwendet. Big Ben heißt die Uhr im albern phallischen (und architektonisch instabilen) Turm am Parlamentsgebäude. Deren Glocke schweigt derzeit, weil Englands größter Dildo auf öffentliche Kosten renoviert wird. Popo und eine Reihe weiterer verhinderter Uhrmacher wollten per Crowdfunding 500 000 Pfund von uns einsammeln, damit sie am 31. Januar fröhlich als Sterbeglocke läuten kann. Wie sich herausstellte, funktionierte das Spendensammeln nicht richtig, und keine Behörde war überhaupt befugt, das Geld anzunehmen ... eine überhastete, bescheuerte, chauvinistische Idee erwies sich als nutzlos.

Außer ein bisschen Geklöppel für unsere betrogene Jugend hat Popo eine größtenteils ungeplante Nationalfeier für unseren größtenteils ungeplanten Brexit am 31. angekündigt. Sie wird mit der Veranstaltung konkurrieren, die das faschistische Froschwesen Nigel Farage auf dem Parliament Square steigen lässt. Farages "Partei" erweist sich häufig eher als rechtsextremes Schneeballsystem, man sollte also für die gemeldeten Ausgaben von 100 000 Pfund nicht mal eine Hüpfburg erwarten. Mit dem Geld könnte man die Obdachlosen des Bezirks Westminster monatelang mit Kost und Logis versorgen.

Und wie könnte unsere Nation tatsächlich feiern? Mit reglosen Reihen von Studierenden, der Reisefreiheit beraubt, die alle den Schrei von Edvard Munch nachstellen? Mit Kolonnen brennender Waschmaschinen und Hochhäuser? (Durch den Brexit sollen Gerätehersteller und Vermieter aller Sicherheitsvorschriften entledigt werden.) Mit massenhaftem Erbrechen? (Auch die Lebensmittelsicherheit wird über Bord geworfen.)

Sollen wir zurückgreifen auf Popos Ära als Bürgermeister von London, vielleicht mit der pantomimischen Darstellung von Prügel für Journalisten - schließlich hat man Popo erwischt, wie er so etwas am Telefon für seinen alten Eton-Kumpel Darius Guppy zu arrangieren versprach? Oder eine große Leere, wo die Garden Bridge für 52 Millionen Pfund sein sollte, die Popo nie gebaut hat, oder seine unnützen Busse für 321,6 Millionen? Es wird geschätzt, dass Popo die Stadt London 600 Millionen Pfund gekostet hat - für sinnlose Prestigeprojekte und Korruption. Genau wie bei der Untersuchung russischer Beeinflussung unseres demokratischen Prozesses warten wir auch weiterhin vergeblich auf Ergebnisse der Nachforschungen zu der blonden Striptänzerin und selbsternannten Hackerin Jennifer Arcuri, der Popo - soweit wir wissen - 800 000 Pfund zugeschustert haben soll. Und auf dem Parliament Square? Wird das eine Brexit-Feier wie alle anderen bisher? Werden Hände zum Hitlergruß erhoben und rechtsextreme Flaggen geschwenkt? Werden dunkelrot angelaufene Wutbürger brüllen und sich mit der Polizei prügeln? Willkommen in Großbritannien - und jetzt verschwindet!

Übersetzung: Ingo Herzke

© SZ vom 21.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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