Kino:"Julieta" - Es war einmal ein Punk

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Der Film springt zwischen Provinz und Madrid, früher und heute, junger und alter Julieta (hier im Bild: Adriana Ugarte). (Foto: Tobis)

Für sein Melodram adaptiert Pedro Almodóvar drei Kurzgeschichten der Nobelpreisträgerin Alice Munro. Er knüpft an seine besten Zeiten als Bürgerschreck an.

Filmkritik von Philipp Stadelmaier

Auf dem Tisch steht eine Kunstfigur, ein Torso ohne Arme und Beine, amputiert und versehrt. Vorsichtig packt eine Frau die Figur in Luftpolsterfolie und dann in einen Umzugskarton. Ihr Name ist Julieta. Sie ist dabei, mit ihrem Freund Madrid zu verlassen und nach Portugal zu ziehen. Madrid, das sind zu viele Erinnerungen. Portugal verspricht ein neues Leben ohne die Last der Vergangenheit.

Doch dann begegnet Julieta auf der Straße einer Frau, die sie von früher kennt: Bea, eine alte Freundin ihrer Tochter. Und wir erfahren, dass Julieta diese Tochter schon sehr lange nicht mehr gesehen hat, sodass sie nicht einmal weiß, wie und wo sie lebt.

Julieta ähnelt ein bisschen jener Kunstfigur, die sie gerade eingepackt hat: Arme und Beine hat sie zwar noch, aber ihr fehlt ein wichtiger Teil, sie hat ihr Kind verloren. Nun will sie vor der schmerzhaften Vergangenheit nicht mehr davon laufen, weswegen sie den Umzug kurzerhand absagt und in ihr altes Apartment in Madrid zieht.

Dort beginnt sie ihre Geschichte aufzuschreiben, in der Form eines Briefs an die Tochter, und diese Geschichte wird uns nun in einer fiebrigen Rückblende erzählt.

So springen wir aus der Gegenwart in die Achtzigerjahre, in einen Zug, der durch eine winterliche Landschaft fährt. Hier wird Julieta zwei Männer kennenlernen, die ihr Leben bestimmen werden. Aber diese Julieta ist nicht mehr die gleiche wie zuvor: Die ältere wird von Emma Suárez gespielt, die jüngere von Adriana Ugarte.

Almodóvar war schon immer ein großer Realist, der die spanische Gesellschaft genau beobachtet hat

Die verschiedenen Gesichter der Julieta prägen den zwanzigsten Film des Spaniers Pedro Almodóvar entscheidend. Denn dieser erzählt auch von den vielen Gesichtern des Regisseurs.

Die Reise in die Vergangenheit seiner neuen Hauptfigur ist auch eine Reise in seine eigene Vergangenheit. Ein Streifzug durch seine bisherigen Filme und die Zeiten, in denen sie entstanden sind, von den Achtzigern bis heute.

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Der Filmemacher, der oft für seine poppigen Dekors und Kostüme, seine schrillen Figuren und fantastisch-romantischen Geschichten verehrt wird, war immer auch ein großer Realist, der die Veränderungen der spanischen Gesellschaft begleitet hat.

Wenn etwa die junge, punkige Version von Julieta Sex im Nachtzug hat oder einem Schüler in ihrer Klasse fast bedauernd mitteilt, dass er leider nicht seine Lehrerin vögeln könne, dann erinnert das an Almodóvars Filme Anfang der Achtzigerjahre: diese punkigen, underground-orientierten Orgien, in denen nach dem Ende der erdrückenden Franco-Diktatur Begierde und Lebenslust regierten.

Gegen Ende dieses Jahrzehnts zeigte Almodóvar dann in Filmen wie "Fessle mich!" mehr die morbide Seite von Drogen und Sex und eine langsame Rückkehr der klassischen Paarbeziehung: Spanien wurde wieder konservativer.

Ebenso wird sich Julieta bald in einer Paarbeziehung in einem Dorf am Meer wiederfinden - und auch der Tod wird nicht auf sich warten lassen, auf hoher See und durch schwere Krankheiten.

Vor allem aber findet "Julieta" zu einer Stimmung, die in Almodóvars großen Meisterwerken vorherrscht, entstanden während der Regierungszeit der konservativen Partido Popular Ende der Neunzigerjahre.

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Was "Alles über meine Mutter", "Sprich mit ihr" und "Schlechte Erziehung" auszeichnete, war eine Hinwendung zu gesellschaftlichen Außenseitern. Formal sprangen diese Erzählungen von großen Verlusten hin und her zwischen den Zeitebenen und Schauplätzen, ebenso wie jetzt "Julieta": zwischen Provinz und Madrid, früher und heute, junger und alter Julieta.

Das Spanien von 2016

Der Film ist eine Adaption von drei Kurzgeschichten der kanadischen Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro, die Almodóvar erst auf Englisch in New York drehen wollte und sich dann doch wieder für Spanien entschieden hat.

Was jetzt wie ein Signal wirkt dafür, dass er sich von seinen Filmen der letzten Jahre abwendet, in denen er zunehmend der spanischen Realität entflohen ist. Zuletzt in "Fliegende Liebende", in dem die Figuren zu fleischlosen Charakteren einer Soap-Opera wurden.

Diese Geschichte jetzt, in der eine Tochter mit der Mutter bricht, erzählt wieder über das Spanien von 2016, in dem junge linke Parteien auf dem Vormarsch sind und das Establishment hinter sich lassen.

Noch nie hat der Regisseur so schonungslos von Schmerz und Verlust erzählt wie in diesem Film

In dieser Situation scheint sich der etablierte Regiestar Almodóvar selbst zu befragen. Anders als früher widmet er sich keinen Außenseitern mehr, sondern den Arrivierten - zu denen er selbst gehört.

Almodóvar ist vermögend, die Werbetour zu "Julieta" musste er wegen der Panama Papers unterbrechen, die aufdeckten, dass er über seinen Bruder Geld in die mittelamerikanische Steueroase geschleust hatte. So wirkt er ein wenig wie die ältere Julieta, die guten Wein trinkt, in netten Apartments wohnt und mit Künstlern verkehrt. Anders als Julieta hat Almodóvar zwar keine Kinder, aber jüngere Zuschauer, die er zu verlieren droht.

Den Schmerz, der in diesem Film zirkuliert, macht dies umso realer. Noch nie war ein Verlust bei Almodóvar so krass wie hier - und auch so ersatzlos. Noch in "Alles über meine Mutter", in dem anfangs ein Sohn stirbt, wandert die Liebe der Mutter zu anderen Liebesobjekten weiter.

Was aber durch "Julieta" zirkuliert, ist vor allem der Torso, ein Symbol von Schmerz und Versehrung, dem der spanische Regisseur mit diesem großen Film so direkt ins Gesicht schaut wie Julieta, während sie an ihre Tochter schreibt.

Julieta , Spanien 2016 - Regie und Buch: Pedro Almodóvar. Kamera: Jean-Claude Larrieu. Mit Emma Suárez, Adriana Ugarte. Tobis, 100 Minuten.

© SZ vom 04.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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