Graphic Novel über eine Ärztin ohne Grenzen:Das Kind im Gepäck

Lesezeit: 3 min

Penelope kann ihre zwei Leben zwischen Syrien und Belgien, ihrer Familie und der Arbeit als Ärztin ohne Grenzen kaum mehr vereinbaren. (Foto: Judith Vanistendael/Reprodukt)

Judith Vanistendaels Graphic Novel "Penelopes zwei Leben" erzählt von einer Frau, die sich zwischen ihrer Arbeit als Chirurgin im Syrienkrieg und ihrer Familie in Belgien entscheiden muss .

Von Martina Knoben

Warten und weben, die Freier abwehren, so kennt man Penelope. Lange galt die Ehefrau des Odysseus als Inbegriff weiblicher Tugenden, als besonders sittsam und treu. Immerhin wartete die alleinerziehende Mutter zwanzig Jahre lang auf ihren sich in der Weltgeschichte herumtreibenden Ehemann und hielt sich alle Kerle vom Hals, die es auf sie und ihr Königreich abgesehen hatten.

Judith Vanistendaels Penelope ist anders. "Ich webe nicht. Ich warte nicht", erzählt sie schon zu Beginn der Graphic Novel "Penelopes zwei Leben". Einen Sohn wie im Mythos hat Penelope auch nicht. Ihre Geschichte widmet sie ihrer Tochter, die sie vier Jahre nicht gesehen hat - eine Rückblende erzählt, warum.

Penelope arbeitet als Ärztin ohne Grenzen in Aleppo. Rote Wasserfarbe breitet sich in dem von Judith Vanistendael wie hektisch skizzierten Bild aus. Männer hasten, auf einer Trage liegt ein blutendes Mädchen auf dem Weg in den Operationssaal. Grün ist hier die dominierende Farbe. Grün ist Penelopes OP-Kittel, sind ihre Haube und ihre Handschuhe, die nun im Rot des Blutes schneiden, tupfen und nähen. Grün ist auch die Farbe von Penelopes Augen. Man weiß noch nicht viel über sie, aber schon die Farben erzählen, dass Penelope eine Ärztin mit Leib und Seele ist. Eine Ärztin buchstäblich ohne Grenzen.

Auf mehreren Seiten, einer ganzen Bilderstrecke, wird Penelopes Arbeit im syrischen Bürgerkrieg mit dem Alltag ihrer Tochter Helena kontrastiert. Jede Seite ist geteilt. Oben auf den Seiten schlummert Helena, eingemummelt in eine Decke wie in einem Kokon in ihrem Kinderbett, während Penelope im unteren Teil auf dem Operationstisch um das Leben eines etwa gleich alten syrischen Mädchens kämpft. Vanistendaels Aquarellzeichnungen sind wunderschön. Und mit dieser beinahe filmischen Parallelmontage setzt die belgische Zeichnerin grafisch eindrucksvoll die Gleichzeitigkeit des kaum zu Vereinbarenden in Szene: den Tod des einen Mädchens mit dem Erwachsenwerden des anderen. Helena bekommt im Verlauf der Bilderstrecke zum ersten Mal ihre Tage.

Penelope verpasst das Leben ihrer Tochter - falschen Trost gibt es nicht

Penelope verpasst diesen Entwicklungsschritt ihrer Tochter - wie so vieles andere in deren Leben. Der Comic schmälert diesen Verlust nicht, falschen Trost gibt es in der Geschichte nicht. Schon in ihrer Graphic Novel "Als David seine Stimme verlor" (2014) über einen Krebskranken und seine Patchwork-Familie hatte Vanistendael davon erzählt, wie schwierig es ist, einen geliebten Menschen gehen zu lassen. In "Penelopes zwei Leben" schmettert Helena ihrer Mutter "All I want for Xmas ist youuuuu" ins Ohr, als diese bei ihrem jährlichen Fronturlaub die Familie in Belgien besucht. Wenn Helena allerdings heult und zetert, weil sie den Ablativ nicht kapiert, wo doch in Syrien gerade Kinder verbluten, fühlt Penelope sich fremd in ihrer eigenen Familie. Ihre zwei Leben bringt sie kaum mehr zusammen.

In ihrer Reisetasche ist, eingerollt wie ein Embryo, ein totes Kind mit nach Belgien gekommen. Es ist ein Geist, getaucht in blutrote Wasserfarbe, der mit Penelope und ihrem Mann Otto im Bett liegt, aus einer Tasche ihres Arztkittels lugt oder ihr beim Besuch eines Psychologen auf der Schulter sitzt. Plump ist das nicht, vielmehr ist das Medium Comic hier ganz bei sich, wenn es mit seinen ureigenen Mitteln das Päckchen sichtbar macht, das Penelope mit sich trägt. Ein Arzt würde es eine posttraumatischen Belastungsstörung nennen.

Wie schwer es ist, einen geliebten Menschen gehen zu lassen: Ausschnitt aus "Penelopes zwei Leben". (Foto: Judith Vanistendael/Reprodukt)

Wenn von der Vereinbarkeit von Kind und Beruf die Rede ist, geht es ja meistens um logististische Fragen. Ob die Öffnungszeiten der Kita mit Konferenzterminen harmonieren oder der Papa das Kind im Krankheitsfall auch mal übernehmen kann. So einfach macht es Judith Vanistendael ihrer Titelheldin nicht. Was tun, wenn sich Kind und Berufung beim besten Willen nicht (mehr) vereinbaren lassen? Vanistendael schenkt ihrer Figur eine Freiheit, wie sie auch heute noch für Frauen nicht selbstverständlich ist. Die Freiheit, sich - nein, nicht gegen ein Kind -, sondern für eine Sache zu entscheiden, vielleicht ja dafür, die Welt zu retten oder wenigstens ein paar Menschenleben. Männer, die so handeln, obwohl auch sie ihre Kinder lieben, bekommen dafür womöglich einen Ehrendoktortitel, bei Frauen sind die Reaktionen immer noch meistens anders.

Dass der Konflikt im Zentrum dieser Graphic Novel nicht konstruiert wirkt, die Geschichte vielmehr ganz lebendig ist, verdankt sie auch den Mitgliedern dieser Familie: Otto ist ein knuffiger und kluger Dichter, der Penelope als diejenige liebt, die sie ist, und außerdem der einfühlsamste Vater ist, den man sich ausdenken kann. In Helena hat Judith Vanistendael wohl ihre eigene Tochter porträtiert, so zärtlich ist ihr Blick. Aber auch Nebenfiguren wie Penelopes Mutter oder ihre Schwester werden liebevoll, dabei kritisch-prägnant skizziert.

Dabei geht es auch um die diversen Facetten des Weiblichen. In einem Gedicht von Otto ist davon die Rede, in dem er über die Masken spricht, die Frauen tragen, zu denen er auch die Maske der aufopferungsvollen Mutterliebe zählt. In einer meisterhaften, leicht abgehobenen Szene ist tatsächlich zu sehen, wie Penelope eine Maske trägt, während sie mit Otto und Helena zusammensitzt. Nach nur zwei Panels legt Penelope die Maske gleich wieder ab, während eine wieder sehr kindlich wirkende Helena über ihren Geburtstag spricht und sich eine Schokoladentorte wünscht. Doch nun trägt Otto eine freundlich lächelnde Papa-Maske im Gesicht. Nicht jeder Mann möchte heute noch ein Odysseus sein. Was für ein Glück.

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