Internationales Filmfestival Thessaloniki:Sieg der Werte

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Worum geht es im Leben? Simon (Kristoffer Bech) muss sich in "In the blood" dem Erwachsenwerden stellen. (Foto: Scanbox Entertainment)

Am besten, man hält es mit der Wahrheit. Beim Filmfestival Thessaloniki befassen sich die gezeigten Filme mit Schuldgefühlen, und wie sie überwunden werden können.

Von Paul Katzenberger

Bescheidenheit ist oft eine Zier. Wer an der Einsicht zweifelt, dass geringere Ambition manchmal zu einem besseren Ergebnis führt, der konnte sich beim diesjährigen Internationalen Filmfestival Thessaloniki eines Besseren belehren lassen.

Zum Spektakel der Filmfestivals gehört oft der Hype um Premieren: Der Großregisseur, der sein Werk bis zur letzten Sekunde im Schneideraum perfektioniert, um es dem wartenden Publikum doch noch bei einem rauschenden Galaabend präsentieren zu können - das entfaltet immer wieder einen ganz besonderen Zauber.

Für die großen Festivals in Cannes, Berlin und Venedig sind Weltpremieren daher Pflicht, das gebietet allein schon das weltweite Medienecho.

Die Großfestivals haben allerdings den Vorteil, dass die besten Filmemacher ohnehin zu ihnen drängen. Das gilt für kleinere A-Festivals wie in Karlovy Vary oder Warschau allerdings nicht, obwohl sie ebenfalls die Auflage haben, mindestens internationale Premieren ins Programm zu nehmen, andernfalls verlieren sie den A-Status. Die Konsequenz: Kleinere A-Festivals zeigen oft nur zweite oder dritte Wahl von dem, was ihnen Cannes, Venedig oder Berlin noch übrig lassen.

In dieser Gemengelage mag es für ein Filmfestival von Vorteil sein, auf das Recht der ersten Nacht einer Premiere zu verzichten. Das zeigte sich in Thessaloniki in diesem Jahr deutlich. Denn die Filme, die hier im Wettbewerb präsentiert wurden, hatten ihr Debüt zwar schon hinter sich, dafür waren sie aber durchgehend von hoher Qualität.

Seelische Verwundungen durch den Kriegseinsatz

Denn mit ihrer Strategie, lediglich ein zweite oder gar drittes Publikum zu bedienen bekamen die Programmierer in Thessalonki die Chance, ihren Wettbewerb aus dem Pool aktuell spannender Filme zusammenstellen. Diesen Spielraum zu nutzen, gelang dem Team in Thessaloniki unter dem neuen künstlerischen Leiter Orestis Andreadakis ganz vorzüglich: Es löste in extenso den Aktualitätsanspruch guten Kinos ein, das sich immer auf der Höhe der Zeit bewegen sollte.

Das französische Drama "The Stopover" ging etwa der brandheißen Frage nach, was die Einsätze in Krisengebieten wie in Afghanistan aus unseren Soldaten machen. Die zwei Kämpferinnen Aurore (Ariane Labed) und Marine (Soko) kennen sich von Kindesbeinen an, doch während eines dreitägigen Zwischenstopps auf Zypern, bei dem sie nach ihrem Afghanistan-Einsatz psychologisch betreut werden, brechen die seelischen Verwundungen auf, die sie in lebensgefährlichen Situationen im Kampfgebiet erlitten haben.

Das Psychodrama von Delphine und Muriel Coulin zeigt differenziert auf, dass für Kriegsteilnehmer nichts mehr so sein kann, wie es vorher war. Wer selbst dem Tode nahe gekommen ist oder Kameraden hat sterben sehen, den verfolgen nicht nur unauslöschbare Erinnerungen sondern oft auch irrationale Schuldgefühle.

Wie ungerecht das ist, ließ sich in Thessaloniki bei den vielen Coming-of-age-Filmen erahnen, in denen jugendliches Fehlverhalten in den verschiedensten Konstellationen durchgespielt wurde. Halbwüchsige sind im Gegensatz zu Soldaten frei in ihren Entscheidungen und für ihre Missgriffe daher viel mehr verantwortlich als erwachsene Menschen, die in eine Kriegsmaschinerie hineingepresst werden.

So kommt der 18-jährige "Jesus" (Nicolás Durán) im gleichnamigen Film nicht darüber hinweg, gemeinsam mit seinen skrupellosen Saufbrüdern im Drogenrausch einen Stadtstreicher in einem Park in Santiago de Chile erschlagen zu haben.

Doch die chilenische Gesellschaft verzeiht in ihrer unbarmherzigen sozialen Kälte keine Selbstbekenner. Jesus' Vater (Alejandro Goic) begeht den ultimativen Verrat am Sohn - für Regisseur Fernando Guzzoni noch immer ein Ergebnis der autokratischen Politik in den Pinochet-Jahren, die aus seiner Sicht menschliche Beziehungen bis heute und tief in die Familien hinein pervertiert hat.

Sind wir Europäier zivilisierter? Nicht unbedingt dann, wenn es um wehrlose Kreaturen der Natur geht, wie der isländische Regisseur Guðmundur Arnar Guðmundsson in seinem Erstlingsfilm "Heartstone" veranschaulichte.

Als der Winter kommt, hat sich alles verändert

Die beiden Teenager Þór (Baldur Einarsson) und Kristján (Blær Hinriksson) leben in einem abgelegenen Fischerdorf in Island. Auch sie sind seit Kindesbeinen Freunde - ihr Verhältnis zueinander ist rau aber herzlich, während es im Kontakt zu den anderen Dorfjugendlichen schon mal härter zur Sache geht.

Wenn sie in der Gruppe fischen gehen, überbietet jeder den anderen an Grausamkeit, wenn es daran geht, die geangelten Fische ins Jenseits zu befördern. Als Þór die erste Liebe seines Lebens zu Beta (Diljá Valsdóttir) erlebt, wird die Freundschaft zwischen ihm und Kristján auf eine existenzielle Belastungsprobe gestellt, denn Kristján entdeckt plötzlich zarte Gefühle für seinen Jugendfreund. Als nach einem Sommer voller Metamorphosen und Verwirrungen der Winter übers Land zieht, hat sich alles verändert. Doch Þór und Kristján sind an den Herausforderungen gereift und haben sich ehrlich genug gemacht für einen neuen Lebensabschnitt.

Eine ganz ähnliche Geschichte erzählte in Thessaloniki der Däne Rasmus Heisterberg mit seinem zweiten Spielfilm "In the blood". Die Belastungsproben an der Schwelle zum Erwachsenwerden, denen die Jugendfreunde Simon (Kristoffer Bech) und Knud (Elliott Crosset Hove) während eines Sommers ausgesetzt sind, erweisen sich als zu gewaltig, um die Freundschaft vorerst zu retten. Doch auch hier wird deutlich, wie wichtig die Wahrheit fürs Weiterleben ist.

Das griechische Kino, das in den vergangenen Jahren durch die Experimentierfreude von Filmemachern wie Giorgios Lanthimos ( "The Lobster") und Athina Rachel Tsangari ( "Attenberg") viel Beifall in Fachkreisen bekommen hat, war in Thessaloniki durch die drei Wettbewerbsbeiträge "Aferlov" von Stergios Paschos, "Park" (Sofia Exarchou) und "Amerika Square" (Yannis Sakaridis) üppig vertreten.

Hilfe für eine flüchtende Afrikanerin: Billy (Yannis Stankoglou) setzt in "Amerika Square" alles daran, dass es Tereza (Ksenia Dania) aus Griechenland herausschafft. (Foto: Ilioupolis Films)

Doch nur Sakaridis wusste zu überzeugen - abermals mit der Geschichte zweier Jugendfreunde: Nakos (Makis Papadimitriou, der inzwischen in fast jedem griechischen Film aufzutreten scheint), ein Looser, der mit 39 Jahren noch immer bei den Eltern lebt, und der Tätowierer Billy (Yannis Stankoglou) kennen sich von Kindesbeinen an. Sie leben im selben Haus am Amerika-Platz in Athen, einer Gegend, in der viele Migranten Zuflucht gefunden haben.

Als der syrische Flüchtling Tarek (glänzend: Vassilis Koukalani) dort einen Schleuser sucht, geraten die Dinge zwischen den Freunden in Bewegung. Denn Nakos hasst die Migranten, die sein Heimatviertel so sehr verändert haben, während Billy sich in die afrikanische Sängerin Tereza (Ksenia Dania) verliebt hat, die ebenfalls auf Flucht ist und dringend aus Griechenland herausgebracht werden muss.

Die drei Geschichten verbinden sich, als Nakos' hinterhältige und fremdenfeinliche Vergiftungsaktion Tareks und Terezas Schleuser Hassan außer Gefecht setzt. Doch Billy sorgt dafür, dass die Menschlichkeit zu ihrem Recht kommt, obwohl er einen sehr hohen Preis dafür bezahlen muss. Ein Sieg der Werte über den kurzfristigen und eigennützigen Vorteil - auch hier.

Der Mörder ist hier immer der Rollstuhlfahrer

Der Jury unter dem iranischen Regisseur Amir Naderi war das der Tiefgründigkeit wohl zu viel. Sie entschied sich, mit "Kills on Wheels" die einzige Komödie des Wettbewerbs mit dem Hauptpreis "Goldener Alexander" auszuzeichnen. Attila Tills Geschichte der drei Rollstuhlfahrer Zoli (Zoltán Fenyvesi), Barba (Adám Fekete) und Rupaszov (Szabolcs Thuróczy), die sich der Mafia als Killer andienen, war in Ungarn ein großer Publikumserfolg.

Bei aller Absurdität des Plots spielt Till geschickt mit dem Umstand, dass behinderte Menschen von ihrer Umwelt nicht für voll genommen werden. Als Rupaszov den Auftrag bekommt, einen aalglatten Anwalt auf einem belebten Platz zu meucheln, achtet niemand auf den zerknitterten Typen im Rollstuhl, als der tödliche Schuss fällt.

Die Selbstbescheidung erweist sich in dieser Szene als Schlüssel zum Erfolg. Sie passte damit gut zum Bild, dass das Filmfestival Thessaloniki in diesem Jahr abgab.

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