Übergriffe in der Musikindustrie:"Es war schon 1000 Mal kein Einzelfall"

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"Das ist auf keinen Fall eine Situation, die irgendeine Art von Gleichberechtigung mit sich bringt": Konzertbesucher bei einem Festival in Dänemark. (Foto: Flemming Bo Jense/imago images/Gonzales Photo)

Die Initiative "#Deutschrapmetoo" wollte Übergriffe in der Rap-Szene aufdecken. Mehrere Hundert Fälle kamen zusammen. Jetzt will man den Blick weiten.

Von Jakob Biazza, Daniel Drepper und Lena Kampf

Die beiden Frauen wollen anonym bleiben, so wie die Betroffenen, die sich bei ihnen gemeldet haben. Mehrere Hundert Frauen sollen es gewesen sein, die ihnen von Belästigungen, sexuellen Übergriffen bis hin zu Vergewaltigungen im Kontext von Deutschrap berichtet haben. Im Sommer 2021 war das, nachdem die Aktivistinnen auf Instagram einen Aufruf dazu gestartet hatten. Am Ende hatten sie eine Liste mit mehr als 70 beschuldigten Künstlern, die sie aber nicht öffentlich machen. "Die Namen der Täter", sagt eine der beiden Frauen im Videocall mit Süddeutscher Zeitung und NDR, "würden wir am liebsten überall hinkleben." Das gehe schon aus juristischen Gründen nicht, obwohl sie die Berichte der Betroffenen prüfen, ausführliche Gespräche mit ihnen führen und sich auch Belege wie Screenshots von Nachrichten oder Fotos von Verletzungen zeigen lassen.

Letztlich, sagen sie, sei es ihnen aber gar nicht um die einzelnen mutmaßlichen Täter gegangen. Es gehe nicht um einen Pranger. Sondern darum, die sexistischen Strukturen im Deutschrap offenzulegen.

Das ist ihnen gelungen. Vor zwei Jahren wurden die drastischen Schilderungen von "#Deutschrapmetoo" intensiv diskutiert - allerdings noch verstärkt in den sozialen Medien. Initialzündung damals waren Vergewaltigungsvorwürfe gegen einen Rapper, der diese bestritt und eine einstweilige Verfügung erwirkte. Sein damaliges Label, Universal Music, entschied sich, "die Zusammenarbeit mit dem betreffenden Künstler bis zur Klärung der Vorwürfe ruhen zu lassen".

Dann ging die Branche relativ bald wieder zum Tagesgeschäft über.

Mitten rein in die Vergewaltigungsvorwürfe brachte Universal den Song "Komm Mit" eines anderen Rappers heraus. Eine Textzeile darin: "Deine Ex-Freundin ist aus der Fassung / Ich fick' sie fast tot, sie liegt im Wachkoma". Nach einem weiteren Shitstorm entschuldigte Universal sich "aufrichtig" für die Veröffentlichung, man distanziere sich "von diesem Inhalt". Der Track hätte "weder heute noch zu irgendeinem anderen Zeitpunkt erscheinen dürfen. (...) Unser Diskurs zu inakzeptablen Inhalten hat hier versagt." Nur etwa drei Monate später erschien dann "Block" von Rapper Olexesh mit diesem Inhalt: "Ich bin dreckig und verroht / ich hab den Sex schon gut geprobt / Ich bin kein Klotz / doch überred' sie mit zwei Alkopops". Von dem distanzierte sich niemand mehr.

"Die Bedrohung wurde sehr schnell sehr akut", sagen die Aktivistinnen heute

Aber dafür blieben immerhin die Vorwürfe und Berichte: über den bekannten deutschen Rapper, der einen Fan nach der Signierstunde mit ins Hotel nimmt und dort vergewaltigt. Über den Künstler, der einer Minderjährigen gegen ihren Willen ein Autogramm auf die Brüste gibt. Über den erfolgreichen Rapper, der eine Frau in seiner Wohnung mit dem Messer bedroht und sie im Anschluss missbraucht. Zahlreiche solcher Fälle veröffentlichten die Aktivistinnen vor rund zwei Jahren auf Instagram. Die Betroffenen und auch die mutmaßlichen Täter blieben anonym. Zum Teil, sagen die beiden Frauen, hätten sich mehrere Personen mit Vorwürfen zu denselben Künstlern gemeldet. Mit allen Betroffenen hätten die Aktivistinnen im Anschluss Kontakt gehabt, bevor sie die Vorwürfe dann anonymisiert auf ihrem Instagram-Kanal veröffentlichten.

Die beiden Frauen hätten selbst sexualisierte Gewalt im Umfeld des Deutschrap erlebt, sagen sie. "Wenn die Betroffenen nur alleine in ihren Wohnungen sitzen und sich mit ihren Freundinnen austauschen, dann kann da nichts passieren. Das muss an die Öffentlichkeit", sagen die beiden Aktivistinnen. Für die Betroffenen sei es enorm wichtig zu erkennen, dass diese Übergriffe nicht ihre Schuld seien, sondern es an Strukturen liege, die sexualisierte Gewalt begünstigen würden.

Damit hätten sie auch den Hass vieler Fans und Rapper auf sich gezogen, berichten sie, die darin einen Pranger sahen, auch wenn keiner von ihnen namentlich genannt wurde. Schon in den ersten Tagen nach der Veröffentlichung sei ihnen gewünscht worden, dass sie vergewaltigt werden. Instagram-Nutzer hätten eigens Accounts erstellt, um die Identität und Adressen der Aktivistinnen zu enthüllen. "Die Bedrohung wurde sehr schnell sehr akut", sagen die beiden heute. Es habe auch Rapper gegeben, die ihre Fans auf die Aktivistinnen angesetzt hätten. "Das war wie eine kleine Armee toxischer Männlichkeit."

Die Veröffentlichungen von Süddeutscher Zeitung und NDR sowie weiterer Medien zur Band Rammstein und deren Frontsänger Till Lindemann haben die Aktivistinnen nun dazu motiviert, ihr Projekt auszubauen. Seit vergangener Woche sammeln sie als "Musicmetoogermany" Erfahrungsberichte nicht mehr nur für den Deutschrap, sondern für die ganze deutsche Musikszene.

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Mehr als ein Dutzend Frauen hatte in Gesprächen mit NDR und SZ davon berichtet, wie sie von mehreren Menschen aus dem Umfeld von Lindemann gezielt angesprochen worden seien, häufig über Instagram oder auf den Konzerten selbst, um zu speziell für Lindemann organisierten Aftershowpartys zu kommen und dort mit ihm Sex zu haben. So sei es in verschiedenen Städten in ganz Europa geschehen, immer mit ganz ähnlichem Ablauf.

Zwei Frauen berichteten SZ und NDR zudem von mutmaßlichen sexuellen Handlungen, denen sie so nicht zugestimmt hätten. Auf konkrete Fragen zu den Vorwürfen haben Rammstein bis heute nicht geantwortet. Lindemann hatte über eine Anwaltskanzlei die insbesondere in sozialen Netzwerken "von diversen Frauen" erhobenen Vorwürfe, dass sie bei Konzerten von Rammstein mithilfe von K.-o.-Tropfen beziehungsweise Alkohol betäubt worden seien, um dem Sänger zu ermöglichen, sexuelle Handlungen an ihnen vornehmen zu können, als "ausnahmslos unwahr" zurückweisen lassen. Man werde umgehend rechtliche Schritte gegen die einzelnen Personen einleiten. Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft Berlin gegen Lindemann.

"Wir haben uns in der Pflicht gesehen einzugreifen", sagen die beiden Gründerinnen, denn der Fall Lindemann sei kein Einzelfall. Die Vorwürfe wollen sie ebenso wie zuvor nach einer Prüfung anonym auf einer neuen Website und ihrem Instagram-Kanal veröffentlichen. Dahinter stehe nun ein Netzwerk der Musikbranche, bestehend aus Aktivistinnen, Künstlerinnen und Künstlern sowie Interessenvertretungen, darunter auch die Agentur "Safe the Dance", die "Music S women*" und "Music TH women*". Künftig soll es auch Bildungsangebote und Informationen zu Diskriminierung und entsprechenden Anlaufstellen geben. Und auch andere Erfahrungen mit zum Beispiel rassistischer Diskriminierung oder Transfeindlichkeit wollen die Aktivistinnen sichtbar machen.

Die Macherinnen von "Musicmetoogermany" berichten, dass sie immer wieder von problematischen Situationen bei Afterpartys erzählt bekommen hätten, auch bei vielen Künstlern aus dem Deutschrap. So hätten junge Frauen etwa vor Betreten des Backstagebereiches Verträge unterschreiben müssen, die sie zur Verschwiegenheit verpflichteten.

Gewalt, gerade gegen Frauen, funktioniert immer noch als Marketing-Tool

"Wenn du 16 Jahre alt bist und in einen Backstagebereich kommst, dann ist es für dich erst mal sinnig. Du denkst: Ja klar, das ist ein Megastar und der braucht seine Privatsphäre", sagt eine der "Musicmetoo"-Aktivistinnen. Das Machtgefälle zwischen Künstlern und ihren Fans sei enorm: "Die Person kriegt erst mal per se einen Vertrauensvorschuss, weil du hast dich als Fan mit der Person lange beschäftigt." Wer Backstage eingeladen werde, fühle sich oft auserwählt. Diese Hierarchie zwischen Fan und Künstler könne einseitig ausgenutzt werden. "Das ist auf keinen Fall eine Situation, die irgendeine Art von Gleichberechtigung mit sich bringt."

Auch die Kunst habe einen bestimmten Einfluss, sagen die Aktivistinnen. "Gewisse Texte und Einstellungen schaffen eine Atmosphäre." Tatsächlich wird in einigen Genres Gewalt auch und vor allem gegen Frauen noch immer als Ausweis einer Art von Authentizität gedeutet. Der Pimp, der Gangsta, der Dealer - das sind Rollen, die im Rap auch 2023 noch Erfolg versprechen. Gewalt, bis hin zu Vergewaltigung und Missbrauch, und zwar auch in der Realität, funktioniert als Marketing-Tool.

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Die Aktivistinnen betonen jedoch, dass dies nicht bedeute, dass Künstler, die über Gewalt und Frauenverachtung singen, gefährlicher seien als andere. Aus den Zuschriften mutmaßlich Betroffener von sexualisierter Gewalt im Deutschrap wissen sie, dass auch Künstler mit einem weicheren, positiven Image offenbar schon zu Tätern geworden sein könnten.

Sie sehen bei Live-Events deshalb auch das gesamte Team in der Pflicht. Bei Festivals und Konzerten arbeiten viele Menschen für die Künstlerinnen und Künstler, vom Management bis zum Bühnenbauer. Das sind viele Personen, die potenzielle Grenzüberschreitungen mitbekommen könnten. "Täterschutz ist ein Riesenthema", sagen die Gründerinnen von "Musicmetoogermany". "Was man auf jeden Fall sagen kann: Diese Übergriffe können nur passieren, weil sehr, sehr viele Menschen weggucken, ganz bewusst weggucken, immer wieder."

Auch aus ihren eigenen Erfahrungen wüssten sie, wie wichtig es sei, den Betroffenen Gehör zu schenken. "Es muss jetzt Menschen geben, die sagen: Es ist kein Einzelfall, es war schon 1000 Mal kein Einzelfall." Sie hätten schon länger mit dem Gedanken gespielt, ihren Aktivismus auf andere Musikgenres auszuweiten. Durch die Berichterstattung und die mediale Aufmerksamkeit der vergangenen Wochen sei daher jetzt der Zeitpunkt für sie gekommen.

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