Roman Polanskis neuer Film kommt in die Kinos - und sofort ist die Anklage von 1977 wegen der Vergewaltigung einer 13-Jährigen wieder in den Schlagzeilen. Ermutigt von der "Me Too"-Debatte werden Forderungen nach einem Boykott des Films laut. Dabei sollte eigentlich gelten, was Samantha Geimer, Polanskis damaliges Opfer, empfiehlt: "Beurteilt den Film, nicht den Mann."
Nicht nur bei Polanksi vermischt sich gerade, was nicht zusammengehört: Als vorige Woche bekannt wurde, dass der Pulitzer-Preisträger Junot Díaz mehrere Frauen sexuell bedrängt haben soll, begannen Literaturkritiker diesseits und jenseits des Atlantiks sogleich, nach Indizien für Machismen in seinem Werk zu fahnden, das zuvor des Machismo unverdächtig war - und es im Übrigen noch immer ist. Díaz schrieb immer wieder über Sexismus, aber nicht sexistisch. Ähnliche Vorwürfe treffen den 2008 verstorbenen Schriftsteller David Foster Wallace, der sich nun nicht einmal mehr wehren kann. Den Beispielen ist eines gemeinsam: In den Nachbeben der "Me Too"-Debatte überschattet die Biografie des Künstlers zunehmend die Exegese des Werks.
Wohin aber führt ein solches Kunstverständnis, wenn - was sich abzeichnet - immer neue dunkle Kapitel aus der Vergangenheit von immer mehr Künstlerinnen und Künstlern öffentlich werden? Es droht ein Zeitenwandel für den Umgang mit Kunst; einer, der schädliche Folgen haben könnte. Bisher nahm der Kanon der Künste keine Rücksicht auf die mitunter monströsen Abgründe im Leben von Menschen wie Arthur Rimbaud, Paul Gauguin oder Pablo Picasso. Sogar der sadistische Marquis de Sade bekam dort seinen Platz. Bewertet man Kunst aber im Licht der Lauterkeit des Künstlers, dräut ein Exzess der Anständigkeit, der die Freiheit der Kunst beschneidet. Genieverdacht sollte nicht vor Strafe schützen; aber umgekehrt sollte das Werk nicht in Haftung genommen werden für Verfehlungen des Künstlers.
Man müsste einsehen, dass das Werk ein Eigenleben führt
Die Trennung von Person und Werk, die heute auf dem Spiel steht, war auch eine Forderung von Feministinnen: Bücher von Frauen sollten nicht als reine Frauenliteratur gelesen werden, Bücher von Schwarzen nicht als Afro-Literatur. Natürlich zehrt jedes Werk auch von persönlichen Erfahrungen. Aber Roland Barthes' Diktum vom "Tod des Autors", der Abschied von der Intention des Künstlers, könnte heute die Kunst rehabilitieren.
Die Kunstgeschichte selbst bezeugt die Erosion dieser Trennung: Fast zeitgleich mit Pop-Art wurde der Star erfunden. Der Kunst-, Film- oder Literaturstar heißt so, weil sich bei ihm Leben und Werk vermengen. Seine Person erscheint mindestens so interessant wie seine künstlerische Arbeit. Weil Stars gefragt sind, gibt es bald mehr Homestorys als Rezensionen in den Feuilletons. Das voyeuristische Infotainment geht zulasten der Kunst.
Gegen das Unbehagen gegenüber Werken von Rüpeln und Verbrechern würde die Rückkehr zu einem aus der Mode gekommenen Kunstverständnis helfen: die Einsicht, dass das Werk ein Eigenleben führt und im Zweifel größer ist als der Mensch, der es geschaffen hat. Früher glaubte man, ein Künstler müsse von Inspiration beseelt sein, um Bedeutendes schaffen zu können. Das ist kein Zurück zum genialischen Künstler, sondern eine Erinnerung daran, dass Kunst etwas Erhabenes ist. Etwas, das den genauen Blick lohnt und die genaue Lektüre - des Werks, nicht der Künstlerbiografie.